MITTELSTAND / BRANCHEN

Blühende Landschaften

Als „Ameisenumsiedlerin“ hat sich Christina Grätz deutschlandweit einen Namen gemacht. Mehr als 2000 Nester dieser hocheffizienten Krabbelgruppen hat die Biologin aus der Lausitz schon umgesetzt. Doch ihr Unternehmen Nagola Re, das sich naturnahen Rekultivierungen widmet, hat noch viel mehr drauf. Und sie hat eine Vision von einer blühenden Landschaft, in der die Kohle ein Auslaufmodell ist.

Christina Grätz hockt auf einem Wall von alten Baumstumpfen im Lausitzer Kohlerevier, in ihrem Rücken dampfen die Schornsteine des Kraftwerks Boxberg, unter ihren rotbraunen Locken trägt sie eine Warnweste. Es ist gerade mal 7 Uhr, aber die Biologin buddelt unablässig mit ihren Händen in Ästen und Rinden, Sand und Nadeln. Die staubige Melange, in der Hunderttausende Waldameisen eben noch Zuhause waren, schaufelt sie in große Papiersäcke, die eine Kollegin bereithält. Wenn sie nicht weiterkommt, hilft ein Bagger und hebt dicke Stämme und Stümpfe auf einen blauen Laster. Den ganzen Morgen geht das so, bis im Stubbenwall ein tiefer Krater bleibt und Christina Grätz sagt: So, das war’s.

Die Frau hat eine Menge Energie. Seit 2011 hat die Unternehmerin, Diplom-Biologin, Autorin und dreifache Mutter im brandenburgischen Jänschwalde ihre Firma „Nagola Re“ aufgebaut. Eines ihrer Unternehmensziele: die Bewahrung und Wiederherstellung von artenreichen Lebensräumen, nicht nur in der Braunkohleregion, aber besonders dort. Nagola Re hat inzwischen 25 Mitarbeiter und macht mehr als eine Million Euro Umsatz im Jahr. Grätz führt den Nachweis, dass gut gemachter Naturschutz auch ein erfolgreiches Unternehmenskonzept sein kann. Ameisenumsiedeln ist ihr bekanntestes Geschäftsfeld, Grätz hat davon schon mehrfach in Talkshows erzählt und ein lesenswertes, erfolgreiches Buch geschrieben („Die fabelhafte Welt der Ameisen“, Gütersloher Verlagshaus, 288 Seiten).

Diplom-Biologin und Geschäftsführerin von Nagola Re, Christina Grätz
Buddeln im Ameisennest. Je nach Aufwand, Größe und Lage kostet die Umsiedlung der Ameisenarmeen zwischen 500 und 3500 Euro

Aber die Umsiedelei macht nur einen Bruchteil ihres Unternehmens aus: Nagola Re hilft in Brandenburg und den Nachbarregionen beim Ansiedeln und Bewahren von Pflanzen und Tierrefugien. Sei es vor Autobahnprojekten oder beim Bau der Eugal-Gaspipeline, in Biotopen und Solarparks, in Schlossgärten und auf öffentlichen Grünflächen. Ihr Team kümmert sich um Landschaftsplanung, Renaturierung und Begrünung, um Begutachtung, Rettung streng geschützter Arten, um Forschung, Entwicklung und um die Vermehrung von Saatgut heimischer Wildpflanzen. Mehr als 140 Arten bauen sie mittlerweile an und haben ein Unternehmen für essbare Wildpflanzen begründet. Mehrfach ist das Nagola Re-Team für seine Leistungen ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Zukunftspreis Brandenburg und als KfW-Gründerchampion.

Christina Grätz ist ein Kind der Lausitz. Als sie zwölf Jahre alt war, musste ihre Familie das alte Haus mit dem geliebten Garten und den Teichen verlassen. Die Schaufelradbagger fraßen damals das Paradies ihrer Kindheit. Heute siedelt die 45-Jährige selbst Ameisen um. Der Auftrag für das Nest auf dem Stubbenwall kam von den Stadtwerken Weißwasser, sie verlegen dort neue Rohwasserleitungen. Bei den Voruntersuchungen wurden erst Zauneidechsen gefunden, dann auch Formica polyctena, die Kahlrückige Waldameise. Das Bundesnaturschutzgesetz verbietet unter hohen Geld- und sogar Freiheitsstrafen die Beseitigungen ihrer Nester. Also müssen sie umgesiedelt werden. Je nach Aufwand, Größe und Lage koste so ein Umzug zwischen 500 und 3500 Euro, erzählt Grätz. Die Papiersäcke mit abertausenden Tieren, den Zweigen, Rinden und anderem Nestbaumaterial werden an einen neuen, ähnlichen Standort verbracht, den die Experten vorher genau aussuchen. Dort wird das neue Nest mit den Tieren und dem Material aus den Papiersäcken neu komponiert.

Das Bundesnaturschutzgesetz verbietet unter hohen Geld- und sogar Freiheitsstrafen die Beseitigungen der Ameisennester
Die abertausenden Tiere werden mit Zweigen, Rinden und anderen Nestbaumaterial an einen neuen Standort gebracht

Neben der Liebe zu den Ameisen treibt die Unternehmerin eine Vision für die Zukunft der Braunkohleregion: Die Lausitz zu einem blühenden Zentrum des Wildpflanzenanbaus entwickeln, verbunden mit dem Wachstum vieler Wirtschaftsbranchen: von der Landwirtschaft über die Produktion von Lebensmitteln, Kosmetika und Tierfutter bis hin zum Maschinenbau, der für Neuentwicklungen nötig ist. „Die Bioläden würden schon heute mehr Ware ordern – aber die Produktion kommt einfach nicht nach“, sagt Grätz. Und eine blühende Lausitz würde ganz nebenbei einen ausgiebigen Wildpflanzentourismus anziehen. „Dazu muss man nicht mehr in die Provence fahren.“

Aus der Luft gegriffen ist die Idee nicht. Vorbild ist eine Geschichte aus Niederösterreich. Dort war Johannes Gutmann Ende der 80er Jahre – von vielen belächelt – mit regionalen Bio-Kräutern von Bauernmarkt zu Bauernmarkt gezogen. Heute produziert er mit 500 Mitarbeitern biologische Tees, Kräuter und Gewürze und verkauft sie dem bekannten Label „Sonnentor“ in bald jedem deutschsprachigen Bioladen. Gutmanns Heimatort Sprögnitz hat sich derweil zu einem viel besuchten Kräuterdorf gewandelt. „Viele Arten aus meiner Kindheit, die beinah verschwunden sind“, sagt Christina Grätz, „bieten auch für die Lausitz eine reale Perspektive“.

Interview und redaktionelle Bearbeitung durch: Sven Heitkamp | Freier Journalist | Leipzig

(Bildquellen: Andreas Grasser © Gütersloher Verlagshaus Verlagsgruppe Random House GmbH und Sven Heitkamp)

Veröffentlichung: 21. Juli 2020

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