KLARTEXT

Konjunkturentwicklung unter Stress: Risiken bestimmen ab jetzt das Bild

In unserer Reihe KLARTEXT lesen Sie persönliche Meinungen und Denkanstöße.

Heute von:
Achim Oelgarth
Geschäftsführender Vorstand |
Ostdeutscher Bankenverband e.V.

Aus unternehmerischer Perspektive ist das gerade angebrochene vierte Quartal so etwas wie eine Zwischenzeit. Zum einen läuft das Geschäftsjahr noch, müssen Projekte zu Ende gebracht, müssen Jahresabschlüsse aufgestellt werden und man wirft einen Blick zurück. Zum anderen gilt es, sich schon einmal das kommende Jahr vor Augen zu führen. Welche Aufträge gibt es und – vor allem – in welchem Umfeld wird man sein Geschäft dann führen müssen?

Die zu Beginn des Jahres stark (mit)bestimmenden Faktoren Lieferketten-Reibung sowie Corona  verlieren mehr und mehr an Bedeutung. Gerade bei Corona sprechen die Einschätzungen der Kapitalmarktanalysten eine klare Sprache: Für alle großen Impfstoffhersteller wurden die Umsatzerwartungen (teils deutlich) wegen schleppender Booster-Nachfrage zurückgestuft, fielen die Börsenkurse (Biontech und Moderna um je rund 40%). Die Corona-Pandemie wird immer weniger als Risikofaktor bei der Erwartungsbildung eine Rolle spielen.

Was die Lieferketten anbelangt, schließen sich nach den operativen Schwierigkeiten nun die strategischen Herausforderungen an, sprich wird das Zulieferernetz gemäß den Lehren aus der Corona-Zeit umgebaut. Das bindet Kapazitäten und Mittel, hindert aber immer weniger die Prozessabläufe.

Die positiven Aspekte dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der aktuelle Rand ambivalent zu beurteilen ist. Zum einen sind die Unternehmen mit Hochdruck bemüht die gefüllten Auftragsbücher abzuarbeiten bzw. den Projektstau aus der Pandemie sowie der darauffolgenden holprigen Wiederanlauf-Phase aufzulösen. Dieser Status quo wird allerdings nicht von Dauer sein, wie man an der Kreditvergabe sieht. Nach der kräftigen Ausweitung im ersten Halbjahr wird für das vierte Quartal der Beginn einer Abschwächung prognostiziert. Zudem bringt das bisherige Kreditplus keinen konjunkturstützenden Effekt. Die Darlehen wurden weniger für Investitionen nachgefragt als für den Ausgleich gestiegener Preise sowie aus Sicherheitsgründen.

Diese Einschätzung gilt gerade für das verarbeitende Gewerbe. Die Industrie sendet ein Alarmsignal nach dem anderen. Schrumpft die Produktion dieses Jahr um 2,5% wird 2023 ein Minus von 5% erwartet. Gerade bei einem Schlüsselsektor wie der Automobilindustrie bleiben Investitionen am heimatlichen Standort aus. Sie werden in Regionen mit geringerer Unsicherheit getätigt, voran China. Gerade für Ostdeutschland ist dies kein gutes Zeichen: Von den wenigen industriellen Kernen sind viele automobil geprägt.

Sicher ist: Die schlechten Nachrichten nehmen zu. Gerade für die eher kleineren Mittelständler zwischen Ostsee und Erzgebirge. Denn die bestimmende Triebfeder für den Wirtschaftsausblick hat der Ostdeutsche Bankenverband in vielerlei Weise und an vielen Stellen beschrieben: Deutschland befindet sich in einer veritablen Energiekrise. Kaum vorstellbar: Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt blickt sorgenvoll und mit bangen Gefühlen auf den kommenden Winter.

Energie ist mit allen gesellschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Ebenen verwoben. Unternehmen und Verbraucher/innen sind gleichermaßen von steigenden Strom- und Gaspreisen betroffen. Soll sich die Konjunktur in einem unveränderten Angebots-Setting stabilisieren, muss es zu Anpassungsvorgängen zwischen Anbietern und Verbraucherinnen, zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmern kommen. Doch da „Energie“ alle gleichermaßen betrifft, ist dies wenn überhaupt nur begrenzt machbar.

Zusammen mit weiteren Treibern wie Inflation und steigenden Zinsen braut sich für 2023 so etwas wie der perfekte konjunkturelle Sturm zusammen und die oben beschriebene Kapazitätsauslastung dank Corona-Stau ist lediglich die sprichwörtliche Ruhe davor. Die Energieteuerung wird Firmenpleiten nach sich ziehen; diese wiederum Beschäftigungsverlust. Gleichzeitig wird die Inflation zu Lohn- und Kostensteigerungen führen. Ein weiterer Bremsfaktor für die Wirtschaft. Geldpolitik muss reagieren, Zinsen steigen. Kredite verteuern sich – die Unternehmen erhalten einen zusätzlichen Dämpfer. Schließlich steuert der Staat gegen, kann dies jedoch mangels Ausgabenspielräumen in den öffentlichen Haushalten nur über weitere Verschuldung tun, welche aber durch den Zinsanstieg teurer wird und die Inflation zusätzlich anheizt. Risikoaufschläge für Staatsanleihen steigen, die Geldpolitik kann aber angesichts anhaltenden Inflationsdrucks nicht flankieren. Ein Circulus Vitiosus.

Und als wäre dies nicht genug, dürfte sich der realwirtschaftliche Teil des Krisenszenarios auf den Finanzsektor ausweiten. Konkurse bedeuten Kreditausfall, eine anhaltende Rezession bedeutet Kapitalmarktstress. Kursschwankungen nehmen zu, Liquiditätsengpässe treten auf, Verluste werden in der Strukturierungskette weitergegeben. Portfolios sind neu zu bewerten und damit Sicherheiten. Schließlich wird der Immobiliensektor in Mitleidenschaft gezogen, Ausfälle auch hier plus weitere Schockwellen für den Finanzsektor. Das European Systemic Risk Board, das als Experten-Frühwarngremium die EZB berät, hat erstmals seit seiner Schaffung 2010 eine Stabilitätswarnung für das EU-Finanzsystem ausgesprochen, die die oben aufgeführten Stress-Elemente aufführt.

Klar ist, die Konjunktur trübt sich ein. Während im Sommer alle Beobachter von einem BIP-Plus in 2023 ausgingen, hat sich die Einschätzung grundlegend geändert. Alle Institute, Institutionen und Verbände haben ihre aktuellen Prognosen zurückgenommen, die Hälfte sieht ein Minus vor dem Wirtschaftswachstum. Und zur konjunkturellen Komponente treten strategische Auswirkungen hinzu. Off-Shoring wird zunehmen, der starke industrielle Kern der deutschen Volkswirtschaft bekommt einen Knacks.

Auch wenn die Zeit immer knapper wird, noch kann Politik wirksam gegensteuern. Nach den eher punktuellen Entlastungspaketen I bis III ist der jetzt angekündigte 200-Milliarden-Euro-Rettungsschirm der richtige Ansatz. Der Gaspreisdeckel muss rasch kommen, in ganzer Breite und mit wenig Ausnahmen. Zusätzlich müssen die vom Bundeskabinett Mitte September verabschiedeten strukturellen Steuererleichterungen zügig durchs Parlament gebracht werden.

All das Geschilderte ist keine Schwarzmalerei. Wie bei einem Tsunami wird die Kraft der Zerstörung erst beim Auftreffen aufs Land sichtbar. Die Energiepreise wurden bislang von Termingeschäften bestimmt, die in der noch einigermaßen behaglichen Vergangenheit lagen. Die stark erhöhten Marktpreise schlagen jetzt bald zu Buche. Und das heißt: Schlimm wird es für die Wirtschaft auf jeden Fall. Es kann weniger und kürzer schlimm werden, wenn es endlich an der richtigen Stelle einen Wumms gibt: beim Energieangebot. Deutschland muss alle verfügbaren Kapazitäten in die Waagschale werfen und das deutlich über den bislang zugestandenen Zeithorizont hinaus – jetzt.

Veröffentlichung: 6. Oktober 2022

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