Russland-Ukraine-Krieg: Zeitenwende zu neuen Realitäten

In unserer Reihe KLARTEXT lesen Sie persönliche Meinungen und Denkanstöße.

Heute von:

Achim Oelgarth
Geschäftsführender Vorstand, Ostdeutscher Bankenverband e.V.

Ein seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine sehr häufig benutzter Begriff ist „Zeitenwende“. Natürlich markiert der 24. Februar 2022 eine Zäsur in Europas jüngster Geschichte. So wie mit dem 9. November 1989 die Hoffnung auf dauerhaften Frieden verbunden war und mit dem 11. September 2001 das jähe Ende genau dieses Traums, so wird der vergangene Donnerstag seinen Platz in den Geschichtsbüchern dafür finden, dass an ihm nach über 75 Jahren eine Regierung in Europa für die Durchsetzung nationaler Interessen wieder zu umfassenden kriegerischen Mitteln greift.

„Zeitenwende“ lässt im Kopf der Leser/innen oder Hörer/innen die Idee entstehen, dass das Danach ganz anders als das Davor sein wird. Dieses Anders besteht im aktuellen Fall im Verlust der Friedenssicherheit in Europa. Seit dem 24. Februar 2022 ist Frieden nicht länger die implizite Grundvoraussetzung für die Regelung bi- oder multinationaler Interessenskonflikte. Er ist nicht einfach da, sozusagen ein Windfall Profit, für welchen man nichts tun muss, sondern er muss erhalten, gepflegt – und gerade jetzt zunächst wiedererrungen werden.

Um diese Herausforderung zu meistern bedarf es politischer Weichenstellungen nicht nur in der Außenpolitik. Die Position Deutschlands auf dem geopolitischen Feld wird bereits heute, aber in der Zukunft noch in weitaus stärkerem Maße von seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bestimmt – und von der Bereitschaft, wehrhaft zu sein.

Richtigerweise hat Bundeskanzler Olaf Scholz genau diese beiden Punkte in seiner Ansprache während der Bundestagssondersitzung zum Russland-Ukraine-Krieg besonders adressiert und bereits mit konkreten Maßnahmen unterfüttert. Das 100 Mrd. Euro umfassende Sondervermögen für ein Sofort-Fitness-Programm der Bundeswehr ist das richtige Signal – zumal nun auch hochrangige Generäle und erfahrene Fachpolitiker/innen die stark eingeschränkte Einsatzbereitschaft unserer Streitkräfte offen und klar benannt haben. Klar dürfte aber auch sein, dass Geld allein die Probleme nicht lösen wird. Es bedarf überdies deutlicher interner Reformen der Bundeswehr sowie der Reflektion, was bislang mit den Mitteln des Wehretats finanziert wurde. Was aber noch viel wichtiger ist: Die gesamte Gesellschaft muss unserer Armee und ihren Angehörigen wieder mit der Wertschätzung begegnen, die der Dienst für die Sicherheit unseres Landes verdient.

Auf dem Feld der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sticht die Energiepolitik hervor, zumal sie am stärksten mit dem Russland-Ukraine-Krieg vernetzt ist und die deutlichste geopolitische Facette aufweist. 55 Prozent unseres Bedarfs an Erdgas und 35 Prozent an Erdöl werden aus russischen Importen gedeckt. Auch darüber hinaus ist Deutschland für die Versorgungssicherheit auf ausländische Quellen angewiesen. Wind und Sonne decken aktuell weniger als 20 Prozent des hiesigen Primärenergiebedarfs. Dieser Anteil lässt sich – darauf hat der Ostdeutsche Bankenverband erst unlängst hingewiesen – noch nicht einmal mittelfristig so ausweiten, dass erneuerbare Energien die zentrale Säule unserer Versorgung bilden könnten. Zu groß ist die Ausbaudimension, als dass sie nicht mit wirtschaftlichen Kapazitäten sowie politisch-administrativen und technischen Rahmenbedingungen kollidierte.

Doch selbst ganz unabhängig von diesen Restriktionen: In Ermangelung leistungsfähiger Speichertechnologien braucht Deutschland für sein Energiesystem grundlastfähige Kraftwerke. Der Atomausstieg findet Ende dieses Jahres seinen Abschluss. Kohle soll bis 2038, nach dem Koalitionsvertrag möglichst schon 2030 folgen. Bleibt somit nur Gas, was auch der von der aktuellen Bundesregierung fortgesetzten Übergangsstrategie entspricht. Und hier schließt sich der Kreis zum Nexus zwischen Energiewende hierzulande und den geänderten geopolitischen Realitäten in Europa. Olaf Scholz‘ Ankündigung des Baus von zwei Flüssiggasterminals an der Nordseeküste ist Ausdruck einer weiteren „Zeitenwende“: Der parallele Ausstieg aus Atomkraft und Kohle für die Energieerzeugung in Deutschland glich bereits bis vor dem 24. Februar einem gewagten Optimierungskalkül. Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen ist allerdings eine entscheidende Nebenbedingung dieses Projekts weggefallen: Russisches Gas kann nicht länger als stabiler Faktor der grundlastfähigen Übergangstechnologie eingerechnet werden. Dass vor diesem Hintergrund Stimmen laut werden, die ein Vorziehen des Braunkohleausstiegs als obsolet ansehen, ist folgerichtig. Eine Strategie, die der energiepolitischen „Zeitenwende“ Rechnung trägt, sollte diese Einschätzung nicht barsch vom Tisch wischen, sondern nüchtern diskutieren. Wie gesagt, Sicherheitspolitik und Energiesicherheit gehören zusammen.

Dass Europa und die USA auf die russische Aggression mit Sanktionen antworten ist folgerichtig und angemessen. Politik hat in dieser gefährlichen Situation unzweifelhaft das Primat. Wirtschaftliche Konsequenzen treten dahinter zurück – auch und gerade angesichts von Leid und Not der Menschen in der Ukraine

In der Realwirtschaft haben sich die Handelsgeschäfte zuletzt gut entwickelt – sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine. Ostdeutsche Unternehmen weisen aus historischen Gründen noch einen stärkeren Fokus beiden Ländern gegenüber auf. Diese gute und allen Seiten nutzbringende Entwicklung ist jetzt natürlich infrage gestellt. Trotz allem kam die „Zeitenwende“ nicht abrupt. Beispielsweise haben die deutschen Banken ihr Russlandgeschäft heruntergefahren und ihre Risiken betragen gemessen am Eigenkapital lediglich ein Prozent. Gleichzeitig, und hier will ich trotz aller berechtigter Sorgen und Negativszenarien einen Hoffnungsschimmer aufzeigen: Die Handelsbeziehungen erwiesen sich entgegen der seit 2014 gegebenen Spannungen als relativ stabil– weil man im Gespräch geblieben ist. Politischen Akteuren sollte dies ein Beispiel sein, wie wichtig es trotz der Aggression jetzt ist, die Tür zum Verhandlungssaal nicht zuzuschlagen. Nur so kann das Abdriften der „Zeitenwenden“ in eine Eskalation der Auseinandersetzung vermieden und können die Beziehungen wieder in eine friedlichere Richtung gebracht werden. In einem ersten Schritt müssen die Verbrechen an der Bevölkerung in der Ukraine sofort aufhören. In einer historisch einmaligen und überwältigenden Mehrheit der UN-Vollversammlung, wurde Russland aufgefordert den Angriff auf die Ukraine einzustellen.

Veröffentlichung: 03. März 2022

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