KLARTEXT

Zeitenwende braucht Veränderungen – kein Weiter so

In unserer Reihe KLARTEXT lesen Sie persönliche Meinungen und Denkanstöße.
Heute von:

Dr. Alexander Schumann,
Leiter Politik und Konjunktur, Sonderprojekte |
Ostdeutscher Bankenverband e.V.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Aktionär eines großen Automobilherstellers. Dessen Vorstand hat auf Zehn-Jahres-Frist die Strategie herausgegeben, nur noch Elektrofahrzeuge produzieren zu wollen. Da das bekanntlich ohne Batterien nicht funktioniert, geht das Unternehmen langfristige Abnahmeverpflichtungen mit dem weltweit größten Lithium-Exporteur ein. So sichert man sich den Rohstoffbezug, der aus anderen Quellen nicht zu decken wäre.

Eines Tages erfahren Sie beim morgendlichen Blick ins ePaper Ihrer Zeitung, dass ein Erdbeben in eben jenem Lithium-Land weite Teile der Förderinfrastruktur zerstört hat und der Export drastisch einbricht. Gespannt fragen Sie sich, wie der Automobilhersteller reagiert, denn ohne Lithium aus dem Erdbebengebiet geht bei ihm eigentlich nichts.

Die Reaktion des CEO kommt nur einen Tag später: An der Elektrostrategie wird nicht gerüttelt. Man halte an den verabschiedeten Plänen fest. Woher dafür Lithium kommen soll, erfahren Sie nicht. Was tun Sie? Sicherlich Ihre Aktien schnell verkaufen.

Dieses Fallbeispiel ist natürlich konstruiert. Es soll die Widersprüchlichkeit so mancher aktuellen Entscheidung illustrieren – nicht im Unternehmenssektor, sondern in der Politik. Nun kann man einwenden, beide Sphären seien nicht oder nur schwer zu vergleichen. Das mag an einigen Stellen stimmen. Aber es gibt Gemeinsamkeiten: Zum Beispiel muss in Politik und Wirtschaft so entschieden werden, dass es Nutzen bringt – einmal für die Gesellschafter, das andere Mal für die Gesellschaft, also die Bürger.

Damit nutzbringende Entscheidungen getroffen werden können, muss man sie immer wieder an der Wirklichkeit messen. In Unternehmen geschieht das mittels strategischem Controlling. Und genau solch ein Instrument täte in der Politik dringend not. Ein Blick auf die derzeitige politische Gemengelage verdeutlicht das.

Als energiepolitischen Meilenstein hat Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck vor ca. einem Monat das „Osterpaket“ vorgestellt. Es ist der erste Teil von Maßnahmen zur Beschleunigung des Ausbaus der Erneuerbaren Energien (EE). Die Zielmarken lauten: EE-Anteil bei der Stromerzeugung von aktuell 42% auf 80% in 2030; bis 2035 nahezu 100%; Stromgewinnung aus Off-Shore-Windkraft von 7,8 Gigawatt (GW) auf 40 GW bis 2035; Windkraft an Land soll im selben Zeitraum von 56 GW auf 115 GW gesteigert werden; bei der Photovoltaik sind es 59 GW auf 215 GW.

Angekündigt hatte der Minister die Veränderungen, die zwischen einer Verdoppelung  bis hin zu einer Verfünffachung der Kapazitäten bedeuten, bereits Anfang des Jahres. Und obwohl sich inzwischen ein dramatischer Wandel der Weltlage und damit auch energiepolitischer Rahmendaten vollzogen hat, bleibt alles beim Alten. Nun mag man denken, dass dies nur folgerichtig sei, denn Deutschland muss sich aus der Abhängigkeit vom russischem Gas befreien. Was läge da näher, bei den EE kräftig zuzulegen. Doch wie bereits öfter an dieser Stelle angemerkt, übersieht diese Perspektive einen essenziellen Parameter: Die Energiewende funktioniert nur mit Erdgas.

So wie der fiktive Automobilproduzent Lithium braucht, braucht der EE-Ausbau Gaskraftwerke. Denn die fluktuierenden Quellen Wind und Sonne halten kein Übertragungsnetz stabil. Dafür braucht es – solange Stromspeichertechnologien mit überzeugendem Wirkungsgrad fehlen – Kraftwerke, die man zu jedem Zeitpunkt hoch- und runterfahren kann. Und Erdgas ist (und bleibt) dafür laut BMWK die entscheidende „Brückentechnologie“.

Experten sagen, daran ändere sich in den kommenden drei Jahrzehnten nichts. In einem gerade vorgelegten Bericht beziffert die Bundesnetzagentur die Kosten für die Stabilisierung der Übertragungsnetze bereits heute auf 2,3 Mrd. Euro – so viel wie noch nie zuvor und eine Steigerung um nahezu eine Milliarde gegenüber 2020. Abgesehen von den Kosten: Netzbetreiber weisen bereits beim jetzt gültigen EE-Anteil auf zahlreiche kritischen Ereignisse hin und sie schließen eine Zunahme nicht aus.

Energiepolitik ist aber lediglich ein Problemfeld. Es gibt aktuell derer noch etliche mehr: die Entwicklung der Lebensmittelpreise, die hohe Staatsverschuldung bei gleichzeitiger Erhöhung der Verteidigungsausgaben sowie Inflations-Hilfe-Transfers, Mobilitätstransformation, die weitere Verknappung von Wohnungen.

Und viele von diesen Herausforderungen sind miteinander vernetzt. Deutschland hat die höchsten Energiekosten in Europa. Sie steigen weiter, wie man an der aktuellen Inflation ersehen kann. Und wer erklärt einem Haushalt mit geringem Einkommen, dass nicht nur für die Heiz- und Stromrechnung tiefer in die Tasche gegriffen werden muss, sondern auch an der Supermarktkasse – dauerhaft? Wer erklärt dem Landwirt, dass auf Flächen, die er für die Steigerung des Anbaus anpachten will, jetzt Windräder gebaut werden. Woher sollen die Fachkräfte für den EE-Turbo kommen? Woher angesichts der in der Breite der Wirtschaft vorherrschenden Lieferschwierigkeiten Bauteile und Baustoffe? Hat jemand eingerechnet, dass wir künftig viel mehr Strom verbrauchen werden (Stichworte E-Mobilität oder Digitalisierung)? Ganz abgesehen davon, dass Europa und Deutschland im Besonderen von Gas eben aus Russland abhängig sind. Einen Lieferanteil von 50% switcht man bestenfalls in mittlerer Frist auf andere Exporteure um.

Diese Aufzählung von Fragen, obwohl noch lange nicht abschließend, wirft ein Schlaglicht darauf, vor welchen Umbrüchen unser Land steht. Rahmenparameter haben sich fundamental geändert. Doch anders als in der Wirtschaft fehlt es im Politik-Bereich an Mechanismen und vor allem Prozessen, die helfen, Pläne zu revidieren. In unserem Automobilunternehmen hätte längst der Strategische Controller an den Vorstand und der an den Aufsichtsrat berichtet. Korrekturen wären das Ergebnis.

Die Politik in Deutschland muss Mut und Weitblick entwickeln, ebenso vernetzt zu planen und zu entscheiden. Das Controlling-Know-how gibt es bereits in der öffentlichen Verwaltung. Die gerade zu Ende gegangene Regierungsklausur könnte ein erster Schritt zu einer ressortübergreifenden Agenda sein. So würde die Zeitenwende mit konsistentem Inhalt gefüllt.

Veröffentlichung: 5. Mai 2022

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