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30 Jahre Einheit: Kleine Zeitreise mit der Generation Wiedervereinigung

Nun ist das wiedervereinte Deutschland 30 Jahre alt. Eine Zeitspanne, die man als Generation bezeichnet. Die Generation Wiedervereinigung kennt weder Honecker noch Helga Hahnemann, weder Ketwurst noch Kessel Buntes. Allerdings lassen sich an ihrem bisherigen Leben die gigantischen Umwälzungen durch die Wiedervereinigung noch einmal ins Gedächtnis rufen.

Machen wir also eine Reise zurück in der Zeit. Es ist der 1. Juli 1990. In einer Stadt irgendwo zwischen Kap Arkona und dem Fichtelberg werden David und Sabrina geboren. Für ihre Eltern ist dieser Tag nicht nur Geburtstag des Nachwuchses, sondern er ist für ganz Deutschland historisch. An diesem 1. Juli tritt die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der BRD in Kraft. Die D-Mark kommt über die Elbe und Werra, die Soziale Marktwirtschaft löst die Planwirtschaft ab.

Die DDR, nach dem damaligen Eigenmarketing unter den Top-10 der Volkswirtschaften der Welt zu finden, landet unsanft auf dem Boden der Wirklichkeit: Gemessen an der Konkurrenz im Westen bringen es die Betriebe im Osten lediglich auf eine Produktivität von rund 40%. Der Marginale Kapitalkoeffizient der DDR-Wirtschaft liegt seit den 1980er Jahren bei über 10. Mit anderen Worten: Um eine Mark Wachstum zu erwirtschaften, müssen mehr als 10 Mark der DDR eingesetzt werden. Investieren grenzt damit fast an Liebhaberei. Nicht umsonst gleichen viele der Volkseigenen Betriebe (VEB) einem Maschinen-Museum, in dem den Mitarbeitern jeden Tag die Defizite der Kommandowirtschaft vor Augen geführt werden. Am Rande erwähnt: Angesichts des aktuell wieder des öfteren recht verklärten Blicks auf das Modell Staatswirtschaft, mahnen solche Zahlen und Erinnerungen eigentlich zu mehr Nüchternheit.

Die heiß ersehnte D-Mark bringt 1990 zwar Kaufkraft, stößt aber gleichzeitig das Tor zum weltweiten Wettbewerb auf. Viele der Ost-Unternehmen können nicht mithalten. In der Heimatstadt von David und Sabrina wird der zur GmbH umgewandelte Maschinenbau-VEB insolvent, ihre Papas stehen auf der Straße. Und auch die bislang berufstätigen Mamas haben nun ganz viel Zeit für die Kinder. So wie ihnen geht es in der Startphase der wirtschaftlichen Wiedervereinigung insgesamt vier Millionen Menschen. Sie scheiden aus dem Erwerbsleben aus – temporär oder für immer. Die Unternehmenslandschaft wird ausgedünnt, sowohl an Anzahl als auch an Größe: Gibt es im Osten 1989 noch 840 Industriebetriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten, sind es 1992 nur noch 117. Die Arbeitslosenrate Ost klettert bis Ende der 1990er Jahre auf rund 20%. Rechnet man die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geparkten Beschäftigungslosen hinzu, würde in den Wirtschaftsgeschichtsbüchern eine Quote von 30% stehen. Teil der Erinnerung ist auch: Manche Biografie scheitert komplett. Das planwirtschaftliche Erbe rächt sich brutal.

Doch unterkriegen lassen sich die Menschen im Ostteil Deutschlands nicht. Haben sie zuvor mit Cleverness und Geschick in der Mangelwirtschaft überlebt, suchen sie nun trotz aller Widrigkeiten noch Chancen für das persönliche Glück. Davids Vater findet einen Job als Technischer Zeichner in einem Planungsbüro in Bayern. Der Vater von Sabrina schweißt nun bei einer westdeutschen Metallbaufirma, die vom Bauboom in den neuen Bundesländern profitiert. Die Investitionen in neue Bauten im Osten übersteigen zwischen 1992 und dem Anfang der 2000er Jahre jene im Westen deutlich und liegen zeitweise doppelt so hoch – auch dank steuerlicher Sonderabschreibungen.

Bei den Gründungen geht es im Osten ebenfalls steil nach oben. Deren Nettozahl (Gründungen abzüglich Liquidationen) übersteigt die Entwicklung West viele Jahre. So machen sich auch die Mütter von Sabrina und David selbständig: die eine mit einem Friseursalon, die andere mit einem Werbebüro. Trotz hoher Arbeitslosigkeit stabilisieren die Finanztransfers von West nach Ost die Einkommen. 1,6 Billionen – das ist viermal der aktuelle Bundeshaushalt – werden vom Finanzminister sowie den Sozialversicherungen in die neuen Bundesländer überwiesen, allein mehr als eine halbe Milliarde Euro als direkte Transfers des Fonds Deutsche Einheit sowie der Solidarpakte I und II. Auch wenn auf die Euphorie von Mauerfall und Wiedervereinigung ein doch leicht angespanntes Ost-West-Verhältnis folgt, an finanzieller Solidarität mangelt es nie.

Gerade die Infrastruktur des Ostens wird mit den Milliarden aus dem Westen auf Vordermann gebracht. Auf neuen Straßen fahren unsere beiden Protagonisten in ihren Schulferien an die Ostsee. Neue Klärwerke sorgen für Sauberkeit in ihrer Stadt. Moderne Kraftwerke liefern Strom und Wärme. Die Umwelt im Osten atmet im wahrsten Sinne des Wortes auf. Vorbei der Braunkohle- und Zweitakt-Mief mit all den negativen gesundheitlichen Folgen. Berufsschule und Universität, die David und Sabrina nach ihrem Schulabschluss besuchen, sind ebenfalls auf dem neuesten Stand was Gebäude und Ausstattung betrifft – besser als im Westen.

Ihren 30. Geburtstag feiern David und Sabrina bei den Eltern im Garten. Die Häuschen sind abbezahlt. Mittlerweile liegt das verfügbare Einkommen Ost bei 80%. Unsere Helden haben gute Jobs, denn der Geburtenknick nach der Wende macht Fachkräfte wie sie rar und begehrt. Ihre Eltern und sie haben sämtliche Krisen nach der Wende gemeistert, vom Platzen der Dotcom-Blase über Banken- und Eurokrise bis hin zu Corona. Zumindest da gibt es absolut keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West.

Dr. Alexander Schumann

Alexander Schumann ist Volkswirt und Journalist und war zuletzt Chefvolkswirt des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Er berät den Ostdeutschen Bankenverband in volkswirtschaftlichen Themen.

Veröffentlichung: 1. Oktober 2020

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