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Interview

„Wir müssen uns zusammenraufen“

Dr. Ton Soetekouw war viele Jahre Mitglied des Management Boards sowie CFO der ING Group NV. Die Begegnung mit Dr. Soetekouw fand im Rahmen eines Besuchs holländischer Manager in Berlin statt.

Heute schauen wir aus dem Osten in Richtung Westen: Die Niederlande mögen zwar ein kleineres Land sein, aber wirtschaftlich sind sie mindestens genauso stark wie Deutschland. Die beiden Volkswirtschaften sind eng miteinander verflochten, und auch politisch sind die Entwicklungen nicht völlig unterschiedlich. In vielen Bereichen sind die Niederlande Deutschland oft mehrere Schritte voraus. Der OstBV hat daher einen renommierten Experten mit Bankhintergrund um seine Einschätzung der aktuellen Lage gebeten: Dr. Ton Soetekouw.

Er war viele Jahre CFO der ING Group NV und ist ein profunder Kenner der Niederlande – ihrer Wirtschaft, ihrer Unternehmen, ihrer Stärken und Schwächen. Ein idealer Gesprächspartner um zu beurteilen, was Deutschland von seinem kleineren Nachbarn lernen kann – sowohl im Positiven als auch im Negativen.

Dr. Soetekouw, die Niederlande und Deutschland sind wirtschaftlich sehr eng miteinander verbunden und unsere eiden Länder weisen gewisse Gemeinsamkeiten auf. Wenn man sich die aktuelle Situation in den Niederlanden ansieht: Entsprechen die politischen Entscheidungen tatsächlich den Herausforderungen, vor denen das Land steht?

Beide Länder haben mit den Gefahren und Herausforderungen zu kämpfen, die sich aus den Entwicklungen in der Informationstechnologie und bei der Energieversorgung ergeben. Diese Entwicklungen wirken sich sowohl auf die Märkte in ihrer traditionellen Definition als auch auf die Art und Weise aus, wie wir unsere Gesellschaften organisieren. In Verbindung mit geopolitischen Verschiebungen (USA, China) sehen sich Europa (und damit auch unsere Länder) mit der Notwendigkeit konfrontiert, unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften neu zu definieren, um zumindest unseren Lebensstandard zu erhalten und unsere Bürger, Unternehmen und Institutionen auf neue Dimensionen im physischen wie auch im digitalen Leben vorzubereiten.

Die neue politische Realität, in der technologisches Potenzial mit geopolitischen Veränderungen einhergeht, ist für europäische Politiker nicht leicht zu verstehen, und die von mir prognostizierten Veränderungen könnten durchaus komplex und chaotisch verlaufen. Die Wählerinnen und Wähler in unseren beiden Ländern sind beunruhigt und verlangen eine starke Führung, sei es von links (woke aspirations) oder von rechts (AfD in Ihrem Land, PVV in den Niederlanden).

Wir brauchen einen klar formulierten Führungsbeitrag unserer Unternehmen und ihrer Organisationen, wir brauchen anspruchsvolle Beiträge unserer Universitäten und Forschungseinrichtungen, und wir brauchen politische Parteien, die die Wähler in Debatten einbeziehen mit dem Ziel, Lösungen zu finden, anstatt sich auf die Position „à la recherche du temps perdu” zurückzuziehen, also einer verlorenen Zeit hinterherzujagen. Wir haben wirklich mit der Büchse der Pandora zu kämpfen, aber ich bin überzeugt, dass unsere beiden Länder grundsätzlich über die intellektuellen Ressourcen und die Energie verfügen, um Europa voranzubringen. Denn ohne ein gut organisiertes und selbstbewusstes Europa werden wir langsam, aber sicher an Einfluss und Dynamik verlieren, zum Nachteil des Wohlstands unserer Bürger.

Deutschland ist bekannt für seinen starken Mittelstand – oft als Rückgrat der deutschen Wirtschaft bezeichnet. Auch die Niederlande haben einen dynamischen KMU-Sektor. Wie sieht es dort derzeit aus?

Der niederländische KMU-Sektor, also Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, trägt 60 % zum BIP und 70 % zur Beschäftigung bei. Die Zahl der KMU ist von 926.000 im Jahr 2014 auf 1.560.000 im Jahr 2024 erheblich gestiegen. Im Jahr 2024 gab die niederländische Regierung 8,5 Milliarden Euro für Forschungs- und Entwicklungszuschüsse aus. Mehr als 90 % der Unternehmen, die diese Zuschüsse beantragten, waren KMU. So weit, so gut. Aber Unternehmen im KMU-Segment unserer Wirtschaft haben mit Problemen zu kämpfen wie:

Innovationsdringlichkeit, Innovationsfokus und Innovationsrückstand:

  • Wo soll investiert werden, welche Fähigkeiten sollen entwickelt werden? Wie organisieren wir den Zugang zu Know-how in Bereichen wie Digitalisierung, Cybersicherheit, Quantentechnologie, Mechatronik und nachhaltige Energie, wenn ein KMU sich dies nicht alleine leisten kann

Personalprobleme:

  • Wie machen wir Arbeitsplätze in KMU sowohl für praktisch orientierte als auch für theoretisch orientierte Mitarbeiter attraktiv?

Finanzierungsprobleme:

  • Vor einem Jahrhundert organisierten sich KMU nach religiösen Gesichtspunkten. Die Unternehmen fusionierten im Laufe der Zeit und bildeten einen wichtigen Marktfaktor und einen interessanten Kundenstamm für Spezialbanken. Die ING nutzte und nutzt dieses Potenzial.

Diese Entwicklung zeigt das verborgene Potenzial von KMU-Clustern. Das KMU-Segment unserer Wirtschaft ist hinsichtlich seiner Größe und seines Umsatzbeitrags für jede Bank in Europa ein wichtiger Markt. Auch angesichts seiner Rolle in vielen Lieferketten ist es ein wichtiger Markt. Die Größe und die Ressourcen von KMU schränken jedoch ihre Fähigkeit ein, finanzielle Mittel, Kompetenzen und Erfahrungen zu mobilisieren. Aus diesem Grund sollte jedes Land und Europa insgesamt diese Einrichtungen auf aggregierter Ebene organisieren.

Was sind die größten Herausforderungen, denen kleine und mittlere Unternehmen in den Niederlanden heute gegenüberstehen? Hilft die Politik der Regierung – oder eher nicht?

Die Herausforderungen, denen niederländische KMU gegenüberstehen, sind die gleichen wie die deutschen KMU. Aber die niederländische Regierung ist sich vielleicht eher bewusst und/oder hat mehr Erfahrung darin, die Rolle der KMU auf zwei Ebenen anzugehen…

Welche Ebenen? Warum schneidet der niederländische KMU-Sektor besser ab als sein deutsches Pendant. Was machen niederländische KMU besser? Und wo leistet die Regierungspolitik die richtige Unterstützung?

Meines Wissens nach haben niederländische KMU schon frühzeitig (bereits seit 1930) eine „Skalierung” auf aggregierter Ebene organisiert, indem sie ihre individuellen Grenzen in Bezug auf Größe und Ressourcen anerkannt und die Stärke der Gemeinschaft genutzt haben. Bei diesem Ansatz wurden sie durch die Regierung und die Vorschriften der Zentralbank unterstützt. Bei der Diskussion über die Rolle und den Beitrag von KMU in unseren Volkswirtschaften sollte daher ihre Präsenz sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene berücksichtigt werden.

Am 5. Dezember – dem Tag, an dem dieses Interview veröffentlicht wird – feiern die Menschen in den Niederlanden Sinterklaas, der Heilige Nikolaus kommt und bringt Geschenke. Was würden Sie sich von Sinterklaas für die Niederlande, für Deutschland und für Europa wünschen?

Zunächst einmal würde ich mir wünschen, dass sich beide Länder ihres Erbes bewusst werden. Die Bevölkerung beider Länder ist von einer fleißigen Mentalität geprägt und verfügt über ein enormes Potenzial in Bezug auf Wissenschaft und Know-how. Aber unsere Region wird auch als „das Abendland” bezeichnet, was auf eine abwartende Haltung hindeutet.

Wir können in nachdenklicher Stimmung am Kamin sitzen. Und wir finden es schwierig, die richtigen Prioritäten zu setzen. Diese Haltung sollten wir ablegen. Zusammen stellen wir in Europa die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt dar. So attraktiv das auch klingen mag, die zugrunde liegenden Trends sind nicht unbedingt positiv.

Sehen Sie sich Zahlen für 2024 an: Die USA sind mit Abstand die größte Volkswirtschaft der Welt mit 22. Bill. Euro BIP. Europa kommt auf 12,8 Bill. Euro – nur etwas mehr als China. Schaut man sich die jährlichen Pro-Kopf-Zahlen an, dann spielen Deutschland (54.200 Euro) und die Niederlande (59.100 Euro) in derselben Liga wie die USA (56.400 Euro). In den nächsten zehn Jahren jedoch wird China mit derzeit noch 10.600 Euro zur größten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen, mit einem rasch wachsenden Pro-Kopf-Einkommen, während Europa mit aktuell 28.400 Euro voraussichtlich zurückfallen wird.

Diese einfachen Zahlen veranschaulichen im Wesentlichen unser gemeinsames Problem. Für Europa insgesamt sind dies herausfordernde Zeiten! Da die Marktgröße neben Innovations- und Finanzierungskapazitäten ein dominierender Faktor ist, müssen wir uns in Bezug auf die politische und gesellschaftliche Dynamik zusammenraufen und zeigen, dass eine demokratische politische Struktur entschlossen handeln kann.

Die Pro-Kopf-Zahlen zeigen, dass sowohl Deutschland als auch die Niederlande ein mit den USA vergleichbares Niveau erreichen. Europa aber ist heterogen und „glanzlose” sowie „vielversprechende” Leistungsniveaus bestehen nebeneinander. Gleichzeitig stellt dies eine Schwelle für zukünftiges Wachstum dar.

Angesichts all der Turbulenzen um uns herum sollten politische Parteien, Industrieverbände und Meinungsführer gemeinsam einerseits eine realistische Sicht auf die gegenwärtige Lage in Europa zeigen, andererseits aber auch Energie, Optimismus und den Glauben an eine vielversprechende Zukunft für alle zum Ausdruck bringen.

Scheitern ist keine Option!

Veröffentlicht: 5. Dezember 2025

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