Skip links

Andreas Kunsmann, COO Polycare

#ErfolgeOst

Aus Sand gebaut

Die Thüringer Manufaktur Polycare baut Häuser so einfach wie mit Lego-Steinen und so nachhaltig wie irgend möglich. Ein Pilotprojekt entsteht jetzt im Ahrtal.

Auf einem kleinen Bergplateau am Fuße des Rennsteigs schreibt Wilhelm Conrad Röntgen 1896 Medizin-Geschichte. Der Physiker lässt beim Glasmacher Emil Gundelach in Gehlberg seine ersten Röntgenröhren fertigen, die bald ihren Siegeszug um die Welt antreten. Heute arbeitet in dem historischen Gebäude mit der rötlich-gelben Klinkerfassade eine junge Firma, die sich auf die Fahne geschrieben hat, die Bau-Branche umzukrempeln: Polycare hat ein ebenso simples wie nachhaltiges Verfahren entwickelt, Häuser zu bauen wie mit Lego-Steinen: leichter und nachhaltiger als mit bisherigen Techniken – und wiederverwendbar.

Andreas Kunsmann, 35, Ingenieur für Verfahrenstechnik und Leiter des operativen Geschäfts, steht in der Manufaktur in Gehlberg und zeigt eine ganze Reihe unterschiedlicher Sandsorten in verschiedenen Farben und Festigkeiten, manche fein und weich, andere grobkörnig und rau. Sie stammen aus Namibia und Tunesien, aus Kenia, Griechenland und Katar und sie können den Grundstoff bilden für künftige Häuser von Polycare. In einer Mischmaschine werden solche Sande mit Polyesterharz zu einer Masse verbunden und in Gussformen zu den „Polyblocks“ gegossen. Das Bindemittel besteht dabei zu einem großen Teil aus recyceltem PET.

Polycare-Steine wiegen maximal 15 Kilo. Der Hausbau selbst ist außerdem wie aus Lego-Steinen.

In Gußformen härten die Polyblock-Steine aus.

„Aus fünf unterschiedlichen Steintypen lassen sich alle erdenklichen, geraden Wände für jedes beliebige Hausmodell bauen“, sagt Andreas Kunsmann. Für Sanitärleitungen gibt es zudem spezielle Blöcke mit Öffnungen an den Seiten. „Im Vergleich zu konventionellem Beton hat unser Polymerbeton viele positive Eigenschaften bei Wasserverbrauch, Kohlenstoffemissionen, Druckfestigkeit und Haltbarkeit“, betont Kunsmann. Die maximal 15 Kilo schweren Bausteine werden aber nicht miteinander verklebt oder vermörtelt, sondern lediglich auf eine Grundleiste gesteckt und mit einer senkrechten Gewindestange miteinander verschraubt. Eine Software berechnet vorab, welche Steine wo benötigt werden. So ist eine intuitive Bauweise bis zu einer Geschosshöhe von 3,50 Metern möglich. Und die Dächer werden jeweils von lokalen Zimmereien gefertigt.

Im Interesse der Nachhaltigkeit kann ein Polycare-Haus außerdem jederzeit rückstandsfrei wieder zurückgebaut und zu neuen Gebäuden zusammengesetzt werden. „Wir stehen für eine Architektur, die auch für eine Demontage ausgelegt ist“, betont Kunsmann. Ein Gebäude solle modular und so gebaut sein, dass jede Komponente jederzeit wiederverwendet werden könne. In Namibia haben sie auf diese Weise schon eine ganze Siedlung mit mehr als zwölf Häusern gebaut, dazu eine Schule und einen Kindergarten, insgesamt mehr als 50 Gebäude. Der namibische Botschafter in Berlin hatte sich dafür eigens eingesetzt, einen Produktionsstandort dort aufzubauen.

Polyblock-Produktion in Namibia.

Ein fertiges Schulgebäude in Omuthiya, Namibia.

Seit vorigem Herbst hat Polycare auch die allgemeine Bauzulassung für Deutschland erhalten und startet derzeit ein großes Pilotprojekt. Im vom Hochwasser stark zerstörten Ahrtal entsteht diesen Herbst ein Gemeinschaftshaus für mehrere Familien, die in Tiny-Häusern zusammenwohnen: 110 Quadratmeter groß und multi-funktional ausgestattet für die Bedürfnisse der Kinder und Erwachsenen. Wenn sich das Projekt bewährt, könnten bald weitere Aufträge folgen, sagt Kunsmann.

Im grünen Hinterhof der Firma in Gehlberg stehen bereits drei Häuser unterschiedlicher Größe und Bauart. Ein großes, weiß verputztes Haus mit hohen Fenstern ruht dabei auf Einschraubfundamenten, um Flächenversiegelung zu vermeiden. Denn die Häuser aus Polymerbeton sind 75 Prozent leichter als bei einer traditionellen Ziegelbauweise. Das moderne Gebäude dient nun als Konferenz- und Besprechungsort für das Team und für Kundenbesuche. Gerade war ein Team aus Japan zu Besuch, das an einer Kooperation mit Polycare interessiert ist. „Auch Projekte in Ägypten, Südafrika und Kenia sind in der Pipeline“, berichtet Kunsmann. Vor Ort sollen jeweils kleine Fabriken entstehen, die mit den örtlichen Rohstoffen und eigenen Rezepturen arbeiten sollen. In Südafrika zum Beispiel soll Gießerei-Sand aus dem benachbarten Werk von Mercedes-Benz recycelt werden – ein Material, das heute auf der Deponie landet.

Weiß verputzt und auf Stelzen gestellt – Polycare-Workspace in Gehlberg (sebastianwolf.foto).

Polyblock-Produktion in Gehlberg –Sand und Bindemittel ergeben die Bausteine (sebastianwolf.photo).

Die Geschichte des Unternehmens, das heute 25 Mitarbeitende zählt, begann bereits 2010 – mit der Erdbebenkatastrophe in Haiti. Die beiden Gründer Gerhard Dust und Gunther Plötner suchten damals nach einem Weg, der es Menschen ermöglicht, mit einfachsten lokalen Materialien und ohne schweres Gerät erschwingliche, langlebige und komfortable Häuser selbst zu bauen. Der Unternehmer Dust, der in Florida lebt, war damals in Haiti vor Ort und erinnerte sich an den Bauunternehmen Plötner aus Thüringen, der schon seit DDR-Zeiten davon träumte, Häuser mit möglichst einfachen Mitteln zu bauen – auch eine Reaktion auf den Baustoffmangel in der DDR.

Im Laufe der Jahre entwickelten die Gründer ihre Idee immer weiter. 2019 entstand die erste Polycare-Produktionsstätte in Namibia, eine 1000 Quadratmeter große Manufaktur mit heute 30 Beschäftigten. „Wir bauen vor Ort Partnerschaften auf und können es Unternehmen auf der ganzen Welt ermöglichen, ihren eigenen lokalen Bausektor zu entwickeln“, sagt Betriebswirtschaftler Kunsmann. Nur den deutschen Markt will Polycare selbst beliefern. In den kommenden Jahren soll eine neue Fabrik entstehen – dann allerdings verkehrstechnisch günstiger nahe der Autobahn. Zugleich arbeitet ein Forschungs- und Entwicklungsteam unter anderem an biobasierten Polymeren sowie zementfreien Bindemitteln, an organischen Schaumstoffen und Pilz-Materialien als Dämmstoff. Geht es nach den Polycare-Gründern, soll von Röntgens Ort der Innovation eine neue bautechnische Revolution ausgehen – und ein tragfähiges Geschäftsmodell. Ab 2025 will das Unternehmen, das sich bisher vor allem aus Investorengeldern und Fördermitteln finanziert, schwarze Zahlen schreiben.

Interview und redaktionelle Bearbeitung durch: Sven Heitkamp | Freier Journalist | Leipzig
(Bildquellen: PolyCare und sebastianwolf.photo)

Veröffentlicht: 21. September 2022

Bleiben Sie informiert! Jetzt haben Sie die Möglichkeit, sich in unseren Verteiler eintragen zu lassen. Somit sind Sie immer auf dem Laufenden, was Ostdeutschland bewegt.