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Hoffnungsträger H2

Grüner Wasserstoff gilt heute als eine klimafreundliche Energiequelle der Zukunft. Mit Milliarden-Investitionen der Bundesregierung soll Deutschland nun zum Weltmarktführer der neuen, alten Technologie werden. Das ehemalige Chemiedreieck von Bitterfeld und Leuna entpuppt sich dabei als ein Zentrum der Entwicklung.

Mitten im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen liegt ein gelb-lila gesprenkeltes Feld, kaum größer als ein weitläufiger Fußballplatz. Doch zwischen Königskerzen und Wiesensalbei sind hier vor allem Rohrleitungen, Betondeckel und Markierungspfähle zu sehen. Ihre Aufschrift: Wasserstoff! Unter dem scheinbar harmlosen Stückchen Erde an der Bitterfelder Chlorstraße liegt eines der bedeutendsten Versuchsfelder für die Zukunft der Wasserstofftechnologie in Deutschland: Eine Pilotanlage zur Verteilung und alltagstauglichen Nutzung von Wasserstoff in Haushalten.

Die „Mitnetz Gas“ und mehrere Partner haben im Boden anderthalb Kilometer Leitungen verlegt. Dazu Regelanlagen, Messeinrichtungen und eine weltweit einmalige Fackelanlage installiert. In einem kleinen Flachbau mit großen Fenstern und Türen arbeitet eine Brennstoffzelle samt Heizung und Kühlanlage, um zu testen, wie sich Wohnungen und Büros mit Strom und Wärme aus Wasserstoff versorgen lassen. Seit Mai vorigen Jahres ist das sogenannte „Wasserstoffdorf“ in Betrieb. 3,8 Millionen Euro wurden verbaut, 1,8 Millionen aus Fördermitteln. Denn Wasserstoff gilt als ein Energieträger der Zukunft, der sich speichern und sowohl in Strom wie in Wärme verwandeln lässt. „Wir arbeiten daran, Strom-, Gas- und Wasserstoffnetze zukünftig sinnvoll zu verbinden und Speicherlösungen zu schaffen“, sagt Patrick Becker, der verantwortliche Projektleiter bei Mitnetz Gas. „Mit dem ,H2-Netz‘ wollen wir einen großen Schritt vorankommen.“

Das H2-Netz – auch Wasserstoffdorf genannt – aus der Luft.
Patrick Becker, H2-Netz-Projektleiter bei Mitnetz Gas

Zusätzlichen Schub bekommt das Projekt durch die Nationale Wasserstoffstrategie, die die Bundesregierung in Kürze vorstellen will. Auch die EU-Kommission bereitet dieser Tage einen milliardenschweren Wasserstoff-Aufschlag vor. Bereits im jüngsten Corona-Konjunkturpaket hat die Große Koalition neun Milliarden Euro für den neuen Hoffnungsträger H2 angekündigt. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) will Deutschland zum Weltmeister der Wasserstofftechnologien machen. Das Testfeld in Bitterfeld könnte einen wichtigen Beitrag dafür leisten.

Und das ist kein Zufall: Das mitteldeutsche Chemiedreieck hat jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit Wasserstoff und beherbergt die zweitlängste Wasserstoffpipeline Deutschlands. Derzeit benötigt die Wirtschaftsregion rund 100.000 Kubikmeter des Rohstoffs – pro Stunde. Der Großteil stammt bisher aus Erdgas und fließt in chemische Prozesse in Leuna. Ganze 14 Kubikmeter davon rauschen pro Stunde ins Bitterfelder Testfeld. Eine dünne blaue Leitung, die an einen Gartenschlauch erinnert, genügt. Geliefert wird das Gas vom Linde-Konzern in Leuna, der es bei der Biodiesel-Herstellung gewinnt.

Jürg Ziegenbalk, Sicherheitsexperte der Mitnetz Gas, an einer Prüf- und Messstation
Das H2-Netz mit der speziell entwickelten Regelanlage wird häufig von Experten

In dem realen Versuchslabor geht es um technologische Fragen, die für den Aufbau von Wasserstoffnetzen wichtig werden: So wurden unterschiedliche Verfahren für Leitungsverlegungen getestet. Es wird untersucht, ob Kunststoffleitungen mit Wasserstoff ebenso sicher und zuverlässig dichthalten wie Metallrohre. Außerdem arbeiten die Entwickler daran, dem geruchlosen Wasserstoff Gerüche beizumischen. Sie sollen Menschen in der Umgebung vor Gefahren warnen, falls ein Leck auftritt. Denn das leicht brennbare, farblose Gas kann schon bei leichten Funken eine Stichflamme oder Explosion auslösen.

Das Bitterfelder H2-Netz ist dabei nur eines von mehreren international herausragenden Vorhaben im mitteldeutschen Chemiedreieck. Die Fraunhofer-Gesellschaft treibt in einem Leuchtturmprojekt in Leuna die Produktion von Grünem Wasserstoff in großem Stil voran. In Elektrolyseuren soll im industriellen Maßstab Wasser zu Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten werden. Statt konventioneller Energie werden dabei regenerative Energien eingesetzt. Zudem soll der ökologisch erzeugte Wasserstoff zur nachhaltigen Herstellung von Grundchemikalien und Kraftstoffen genutzt werden. Der Spatenstich für die beiden mehr als zehn Millionen Euro teuren Vorzeige-Plattformen ist diesen Sommer geplant, 2021 soll die Anlage in Leuna laufen. Auch der Aufbau eines Fraunhofer-Instituts für Wasserstoff- und Kohlenstoffprozesstechnik ist im Gespräch. „Der Standort Leuna hat durch Knowhow und Infrastruktur beste Voraussetzungen, zum Nukleus einer deutschen Wasserstoff-Wirtschaft zu werden“, sagt Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Armin Willingmann (SPD).

Eine Fackelanlage für Wasserstoff wurde eigens für das H2-Netz konstruiert
Ein Flachbau im Wasserstoffdorf wird mit einer Brennstoffzelle mit Wasserstoff beheizt und gekühlt

Weiterer Baustein im H2-Netz ist die Umrüstung einer riesigen Salz-Kaverne in Bad Lauchstädt als Untergrundspeicher. Der unterirdische Hohlraum soll über ein Speichervolumen von 3800 Tonnen Wasserstoff verfügen – genug für den Jahresstromverbrauch von etwa 40.000 Zwei-Personen-Haushalten. Die bisherige Erdgas-Speicheranlage der Verbundnetz Gas AG unter einer 500 Meter dicken Salzschicht wäre zugleich der erste Wasserstoff-Kavernenspeicher in Kontinentaleuropa und das weltweit erste Depot seiner Art, das Grünen Wasserstoff speichert. Die Hohlräume in einer Tiefe zwischen 765 und 925 Metern sollen über eine bereits vorhandene Gaspipeline an die Wasserstoff-Infrastruktur und damit die Abnehmer in Industrie, Verkehr und Energieversorgung angeschlossen werden.

Insgesamt laufen in der Modellregion bereits mehr als 30 Wasserstoffprojekte von der Herstellung, Speicherung, Verteilung bis zur Nutzung in der Chemie, Raffinerie, Mobilität und Energieversorgung. 110 Unternehmen, Institute und Forschungseinrichtungen sind in dem 2013 gegründeten Netzwerk „HYPOS“ (für Hydrogen Power Stoirage & Solutions) am Aufbau einer Grünen Wasserstoffwirtschaft engagiert. „Beim Strukturwandel in Mitteldeutschland nach dem Braunkohleausstieg“, sagt der Sprecher der Hypos-Initiative Florian Thamm, „kann Wasserstoff eine bedeutende Rolle spielen – und ein enormer Wirtschaftsfaktor werden.“

Interview und redaktionelle Bearbeitung durch: Sven Heitkamp | Freier Journalist | Leipzig

(Bildquellen: Mitnetz Gas)

Veröffentlichung: 18. Juni 2020

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