Klemens Gutmann, Gründer und Vorsitzender Verwaltungsrat von Regiocom.
MITTELSTAND / BRANCHEN

Servicekonzern als Retter in der Pandemie

Die Regiocom-Gruppe in Magdeburg ist ein Partner großer deutscher Unternehmen und ein Hidden Champion in der Kunden/innen-Betreuung: 5500 Menschen arbeiten heute für das einstige Drei-Mann-Start-up. In der Corona-Pandemie wurden es noch mehr – die Magdeburger erwiesen sich als Retter großer Callcenter im Osten.

Manchmal muss man Klemens Gutmann einfach stoppen. Wenn er am langen Konferenztisch seines Unternehmens in Magdeburg-Buckau sitzt und einen Espresso trinkt, kann er mit wachsender Leidenschaft über den Stammsitz in der Marienstraße 1 sprechen – ein heller Klinkerbau mit weißen Sprossenfenstern, der aus der Zeit der Reichsgründung um 1871 stammt. Den Grundstein legte der Ingenieur und Unternehmer Hermann Gruson, die DDR-Nomenklatur machte daraus das Schwermaschinen-Kombinat Ernst Thälmann, kurz: SKET.

Klemens Gutmann hat sogar ein Büchlein über den Industriepalast geschrieben, obwohl seine moderne Firmengruppe mit der Historie nichts gemein hat: Die Regiocom-Gruppe ist ein IT- und Servicekonzern des 21. Jahrhunderts. Die Firmengruppe betreut in Callcentern die Kunden/innen großer Konzerne, sie kümmert sich um aufwendige Backoffice-Abrechnungen in Schlüsselbranchen wie Energie, Telekommunikation und Verkehr, und neuerdings bedient sie auch Impfhotlines mehrerer Bundesländer. Zu den Partnern zählen große Namen wie E.ON und Vattenfall, Nespresso und Eurowings. Die mehr als 5500 Mitarbeitenden erwirtschaften damit einen Umsatz von gut 200 Millionen Euro.

Regiocom Standort in Magdeburg.
Hoher Besuch in früheren Jahren - Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) besucht einen Messestand.

Doch Regiocom ist weit mehr als nur ein Callcenter-Betreiber. Ein wichtiger Baustein des Erfolgs ist die hauseigene Produktentwicklung: Etliche Software-Lösungen für den Service stammen aus dem eigenen Haus, darunter gegenwärtig sprachbasierte Assistenzsysteme, Lösungen für Energieabrechnung- und Energielogistik, digitale Vertriebsplattformen und Cloudservices. Allein 200 Mitarbeitende sind IT-Entwickler/innen und Prozessspezialisten, viele von ihnen arbeiten im „regiocomLab“ im ehemaligen Kantinengebäude des Magdeburger SKET-Werks. Eines der Erfolge ist das Marktstammdatenregister: das bundesweite Verzeichnis aller Strom- und Gaserzeugungsanlagen für den deutschen Markt inklusive der Wind- und Solaranlagen. Es wird bis heute von ihnen betrieben und technologisch unterstützt.

„Wir stehen in manchen Marktthemen sehr tief im Stoff“, sagt Klemens Gutmann, der Gründer und Vorsitzende des Verwaltungsrates. So kam es auch, dass die Manager im Schwermaschinen-Chateau 2017 einen riesigen Schritt nach vorn machen konnten: Sie kauften den deutlich größeren Konkurrenten snt Deutschland AG, um ein größeres Gewicht im Markt zu erlangen.

Die schiere Größe, der breite Branchenmix und die Technologiestärke halfen dem Serviceexperten/innen ebenso im Corona-Lockdown. „Wir mussten unsere Mitarbeitenden keinen Tag in Kurzarbeit schicken“, betont Gutmann. „Das Gros der Kollegen konnte an allen Standorten binnen zwei bis drei Wochen im Homeoffice starten.“ Währenddessen hat der Dienstleister eine bemerkenswerte Verlagerung unter den Branchen mitgemacht: Während Firmen aus der Verkehrs- oder Touristikbranche pandemiebedingte Einbrüche zu verkraften hatten, konnten Anbieter der Lebensmittelbranche deutlich zulegen. So konnte die Service-Center-Tochter snt-regiocom im Krisenjahr mehrere Standorte anderer Anbieter übernehmen und um mehr als 500 Arbeitskräfte wachsen. Jüngstes Beispiel: Diesen Juli übernimmt die Regiocom-Gruppe von Majorel den Servicecenter-Standort in Stralsund mit mehr als 300 Beschäftigten. Auch das Adecco-Servicecenter in Wittenberge ging mit 150 Arbeitsplätzen an die Magdeburger über.

Gründer-Trio (v.l.) Joan Schlieker, Sebastian Kerz, Klemens Gutmann.
Regiocom Messestand in Essen 2021.

„In einem anderen Fall haben wir einen unserer großen Auftraggeber bei seiner internen Konsolidierung unterstützt und einen Standort in Berlin übernommen“, erzählt Gutmann. Alle neuen Standorte würden auf den neusten Stand gebracht und in das hauseigene Servicesystem integriert. Mittlerweile sind es 15 Standorte allein in Deutschland, dazu weitere in Österreich, Bulgarien und der Türkei.

Die Stärke der Gruppe steckt im Kern des Unternehmens, dessen Aufstieg Mitte der 1990er Jahre begann. Gutmann, ein studierter Informatiker, ist Ende der 80er Jahre freier Mitarbeiter des Karlsruher Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik- und Innovationsforschung und kümmert sich um frühe Breitband-Projekte. Dann fällt nicht nur die Mauer, sondern auch das Monopol der Bundespost. Die Telekom und ein offener Markt entstehen. „Das Geld ging in den Osten und wir gingen mit“, sagt Gutmann. Mit seinen Kompagnons Joan Schlieker und später Sebastian Kerz entsteht seine erste Firma, ein Telekommunikationsdienstleister. Der damalige Wirtschaftsminister Horst Rehberger (FDP) fördert ihre Ansiedlung mit vier Millionen D-Mark. Jahrelang arbeiten sie vor allem für die Telekom, 1998 vollzieht sich die Liberalisierung im Strommarkt. Wieder sind Gutmann und sein Team am Start. „Wir hatten gut funktionierende Abrechnungssysteme für die Telekommunikation, die konnten wir für den Energiemarkt anwenden.“ Etwa 60 Prozent des Geschäfts verdiene die Regiocom-Gruppe bis heute im Energiemarkt.

Den früheren Teilhaber, die E.ON, haben die Inhaber im Laufe der Jahre herausgekauft, das Unternehmen gehört allein ihnen. Gutmann ist darüber froh: „Als Mittelständler agieren wir als Familienunternehmen und sind keinen Aktionären verpflichtet.“ Nun hofft der Unternehmer auf eine ökonomische Erholung nach der Pandemie. „Corona hat gezeigt, welche Kräfte und Hilfsgelder dieses Land innerhalb kurzer Zeit freilegen kann – aber leider auch, welche bizarren Regelungen und Paragrafen eine Unterstützung verhindern. Dieses Ausmaß an Selbstfesselung ist bedrohlich für Deutschland“, sagt Gutmann, der zugleich Arbeitgeberpräsident in Sachsen-Anhalt ist. Gesunden Unternehmen mit funktionierendem Business-Case müsse nach der Pandemie eine Rückkehr ermöglicht werden, ohne die Jahre 2020 und 2021 zu betrachten: „Dabei müssen alle mitziehen, auch die Banken“, betont Gutmann. „Sie sind wichtiger Teil des Systems.“

Interview und redaktionelle Bearbeitung durch: Sven Heitkamp | Freier Journalist | Leipzig
(Bildquellen: Regiocom)

Veröffentlicht: 29. Juni 2021

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