Dr. Alexander Schumann
Mittelstand / Wirtschaftsentwicklung

Blick zurück und Blick nach vorn gehören zusammen

Alexander Schumann ist Volkswirt und Journalist und war zuletzt Chefvolkswirt des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). In dieser Kolumne beleuchtet er 30 Jahre Wiedervereinigung. Was ist gut gelaufen, was schlecht? Was bedarf mehr Aufmerksamkeit?

Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung

Am 9. November 1989, also nunmehr vor 30 Jahren, öffnete sich die Berliner Mauer. Zwei Tage später saßen Wirtschaftswissenschaftler in der Hochschule für Ökonomie in Ostberlin bei einer Konferenz zusammen. Was das eigentliche Konferenzthema war, ist vergessen. Tonband-Aufzeichnungen verraten aber, worüber sich die DDR-Top-Ökonomen stattdessen den Kopf zerbrachen: In den Läden und Supermärkten entlang des Ku-Damm werde gerade die Öffnung der DDR-Wirtschaft eingeleitet, so der einhellige Tenor der Ökonomen.

Im Rückblick ist diese Einschätzung an Hellsichtigkeit nicht zu überbieten. Denn trotz regen Handels mit dem NSW, dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, war die Währung Mark der DDR nicht konvertierbar, stand die Ost-Volkswirtschaft nicht im echten internationalen Wettbewerb. Nun aber kehrten die DDR-Bürger von ihren Abstechern in die Konsumwelt des Westens nicht nur mit vollen Einkaufstüten zurück, sondern auch mit einer neuen Perspektive auf die aus ihrer Sicht notwendigen Reformen.

Nach und nach wurden auf den Montagsdemonstrationen die Sprechchöre „Wir sind das Volk!“ abgelöst von „Wir sind ein Volk!“. Oder noch deutlicher formulierten es Transparente mit der Aufschrift: „Kommt die D-Mark bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ So ist der 9. November 1989 nicht nur das Datum, an dem die deutsch-deutsche Teilung endete. Er markiert ebenso den Start für eines der gigantischsten Umbauprojekte in der Wirtschaftsgeschichte: von der Planwirtschaft Ost zur Sozialen Marktwirtschaft in einem wiedervereinigten Deutschland.

Einführung der D-Mark

In der Nacht zum 1. Juli 1990, also nur knapp acht Monate nach der Maueröffnung, begrüßten die Noch-DDR-Bürger die D-Mark. Auf einen Schlag wurde für die Betriebe zwischen Rügen und Fichtelberg, zwischen Harz und Oberlausitz die Tür zum globalen Wettbewerb aufgestoßen. Während die Währungsunion für die Wirtschaft im Westen eine fulminante Sonderkonjunktur auslöste, wirkte der Strukturwandel-Sturm, der über die fünf neuen Bundesländer hinwegfegte, wie eine „Neutronenbombe“, so die Einschätzung mancher Ökonomen.

Kein Wunder: Die Produktivität lag im Osten bei 40 Prozent des Westniveaus. Wer nicht schnell genug aufholen konnte, hatte keine Chance. Viele Regionen wurden deindustrialisiert. Plötzlich machten die Menschen Bekanntschaft mit einem Phänomen, das bis dato per DDR-Doktrin quasi verboten gewesen war: Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenquote Ost lag nach der Wiedervereinigung lange Zeit bis zu zehn Prozentpunkte über dem Wert im Westen. Mit einem Bevölkerungsanteil von rund einem Sechstel war der Osten für knapp ein Drittel der Arbeitslosigkeit verantwortlich. In der Spitze waren mehr als anderthalb Millionen Menschen arbeitslos. So viele, als ob sich eine Großstadt wie München komplett bei der Arbeitsagentur anstellt.

In Ostdeutschland wurde seit der Wiedervereinigung viel erreicht

Sprung ins Jetzt: Die Arbeitslosenquoten Ost und West liegen nur noch zwei Prozentpunkte auseinander, die Produktivität in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen hat über 80 Prozent des Westniveaus erreicht. Ebenso der monatliche Bruttoarbeitsverdienst. Die Verflechtung mit der Weltwirtschaft der Unternehmen in den neuen Bundesländern kommt der im Westen sehr nahe (Abstand der gesamtwirtschaftlichen Exportquote Ost-West: ca. fünf Prozentpunkte). Obwohl es natürlich im Auge des Betrachters liegt: Etliches von den versprochenen blühenden Landschaften ist Wirklichkeit geworden – auch wenn es länger gedauert hat, als von manch einem erwartet. Alles in allem Grund, stolz zu sein auf das Erreichte.

Zur Bilanz der zurückliegenden 30 Jahre gehört allerdings ebenso, dass Erwerbsbiografien vieler Menschen im Zuge des Umbaus der Plan- zur Marktwirtschaft gescheitert sind. Soziale Markwirtschaft bedeutete für Unzählige, sich von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur nächsten zu hangeln.

Blick nach vorn

Genau diese Kehrseite des Umbaus der DDR-Wirtschaft bildet den Punkt, von dem aus viele hier im Osten auf neuen politisch getriggerten Strukturwandel schauen, auf Energiewende oder Kohleausstieg. Wenn laut Berechnungen des IW Halle in den ostdeutschen Braunkohlerevieren ca. 1,3 Mrd. Euro an Arbeitnehmerentgelten wegbrechen, wenn allein in der Lausitz 12.000 Jobs direkt oder indirekt an der Braunkohle hängen, dann löst der Ausstieg bei den dort lebenden Menschen keine Begeisterungsstürme aus.

Der Blick der Politik auf die zurückliegenden Jahre sollte also nicht nur Stolz auf das Erreichte auslösen. Er sollte gleichfalls zur Demut anhalten. Demut, dass Politik beim Gestalten von Strukturwandel Grenzen hat und respektieren sollte. Das hilft ganz sicher, um beim dann 50. Jahrestag des Mauerfalls wieder ein ordentliches Fazit ziehen zu können.

Alexander Schumann ist Volkswirt und Journalist und war zuletzt Chefvolkswirt des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Weitere Berufsstationen waren u.a. die Bundesagentur für Arbeit, die Bertelsmann Stiftung, die portugiesische Banco Espírito Santo sowie der Mitteldeutsche Rundfunk. Er schreibt für den Ostdeutschen Bankenverband über volkswirtschaftlichen Themen. Alexander Schumann lebt mit seiner Familie in Leipzig.

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