MITTELSTAND / WIRTSCHAFTSENTWICKLUNG

BREXIT: Im Kontext der Welthandelsordnung

Die Verhandlungen rund um den Brexit gehen in die Verlängerung. Nachdem die EU in der letzten Woche eine Fristverlängerung gewährt hat, ringt das zerstrittene britische Parlament nun voraussichtlich bis zum 12. April um eine Entscheidung. Nach wie vor sind die Abgeordneten sich nicht einig wie die Beziehungen zur EU zukünftig ausgestaltet werden sollen. Drei Szenarien sind denkbar: Der ausgehandelte Deal für eine Zollunion, ein harter Brexit sowie der Verbleib im Europäischen Binnenmarkt. Um die Auswirkungen dieser Szenarien besser einordnen zu können, steht die zentrale Institution des Welthandels im Fokus dieses INFOPORT: Die Welthandelsorganisation (WTO).

WTO: Rahmen der Welthandelsordnung

Mit ihren drei Verträgen zum Handel mit Gütern (GATT), Dienstleistungen (GATS) und dem geistigen Eigentum (TRIPS) bildet die WTO den rechtlichen Rahmen für den globalen Handel. Sämtliche Freihandelsabkommen und regionale Wirtschaftsintegrationsräume, wie der Europäische Binnenmarkt, werden innerhalb ihrer Strukturen erfasst und geregelt (siehe Grafik).

Die WTO beruht auf dem Grundsatz des Abbaus möglichst vieler Barrieren im globalen Handel. Zölle sind deutlich transparenter und leichter zu verhandeln als nicht-tarifäre Handelshemmnisse, wie z.B. mengenmäßige Beschränkungen oder administrative Auflagen an der Grenze. Daher ist es Ziel der WTO, maßvolle Zölle als einzige Maßnahme zur Regulierung des Handels zuzulassen und nicht-tarifäre Handelshemmnisse vollkommen zu beseitigen. Dazu werden die Zölle in Verhandlungen durch alle Mitglieder der WTO (derzeit: 164) festgelegt. Jedes Land entscheidet zunächst individuell über die eigenen Importzollsätze aller Güter und Dienstleistungen. Durch Zugeständnisse versucht jedes Mitglied möglichst günstige Bedingungen für die eigenen Exportindustrien auszuhandeln. So haben sich beispielsweise die USA und die EU innerhalb der WTO darauf verständigt, dass erstere auf alle Autotypen im Durchschnitt niedrigere Zölle als die EU erheben. Im Gegenzug hat die EU jedoch deutlich niedrigere Importzölle auf die für die US-Autoindustrie so wichtigen SUVs festgelegt. Auf diese Weise kursieren während der Verhandlungen solange Listen mit Absichtsbekundungen zu Zollsenkungen der einzelnen Länder, bis sich alle WTO-Mitglieder über das Gesamtpaket einig geworden sind.

Dabei gilt die sogenannte Meistbegünstigungsklausel. Demnach darf ein WTO-Mitglied die übrigen Mitglieder nicht unterschiedlich behandeln. Einigt sich die EU mit den USA auf einen niedrigen Zoll auf SUVs, muss die EU diesen auch allen übrigen WTO-Mitgliedern gewähren. Von diesem zentralen Grundsatz gibt es jedoch eine entscheidende Ausnahme: So dürfen Freihandelsverträge und regionale Wirtschaftsabkommen zwischen einzelnen WTO-Mitgliedern geschlossen werden, ohne dass die gegenseitig festgelegten Begünstigungen an die übrigen WTO-Mitglieder gewährt werden müssen. Ein Beispiel hierfür ist der bereits erwähnte Europäische Binnenmarkt, der eine deutlich tiefere wirtschaftliche Integration erlaubt. Sämtliche Abkommen dieser Art befinden sich damit innerhalb der WTO-Struktur und unterliegen den rechtlichen Grundsätzen der WTO — mit Ausnahme der Meistbegünstigungsklausel.

Abkommen dieser Art lassen sich anhand ihres wirtschaftlichen Integrationsgrades unterscheiden (siehe Grafik). Während „einfache Handelsverträge“ in erster Linie Zölle über die WTO-Verpflichtungen der Mitgliedsländer hinaus senken, sollen „umfassende Handelsverträge“ zusätzlich die gegenseitige Anerkennung regulatorischer Praktiken und Standards garantieren. Zollunionen verpflichten ihre Mitglieder darüber hinaus, innerhalb der WTO nur noch mit gemeinsamen und einheitlichen Zöllen aufzutreten. In der Regel garantieren Zollunionen jedoch nur freien Warenverkehr. Über Zölle auf Dienstleistungen wird in einem separaten Handelsvertrag verhandelt. Der Europäische Binnenmarkt stellt eine deutlich vertieftere Form der wirtschaftlichen Integration dar. Ein Binnenmarkt verfügt über die vier Grundfreiheiten, d.h. freier Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, freier Kapitalverkehr sowie Personenfreizügigkeit. Er schafft damit einen einheitlichen Lebensraum für ihre Bewohner, die frei entscheiden können wo sie sich niederlassen und arbeiten möchten. Außerdem soll der Binnenmarkt gemeinsame Regulierungen und Standards gewährleisten.

Der Brexit und seine Auswirkungen

Insgesamt unterliegt der britische Handel momentan folgenden Bestimmungen: Innerhalb der EU den Regelungen des Europäischen Binnenmarkts und außerhalb der EU entweder den Zollregelungen, die die EU in der WTO ausgehandelt hat, oder aber den zahlreichen regionalen Integrationsabkommen, die die EU mit Drittstaaten abgeschlossen hat. Zuletzt waren dies die „umfassenden Handelsverträge“ mit Kanada (CETA) und Japan (JEFTA), wozu sich voraussichtlich in diesem Jahr Verträge mit Singapur (EUSFTA) und Vietnam (EVFTA) gesellen werden.

Großbritannien plant den Austritt aus dem Binnenmarkt, in erster Linie um die Personenfreizügigkeit einschränken zu können. Premierministerin Theresa May sieht stattdessen eine Zollunion mit der EU vor. In der Praxis würde dies eine umfassende Warenfreiheit in beide Richtungen garantieren. Etwaige Zölle auf Dienstleistungen würden entweder über WTO-Verpflichtungen festgelegt oder aber in einem separaten Handelsvertrag zwischen Großbritannien und der EU geregelt. Beides würde im Bereich des Dienstleistungshandels keine wirklich tiefgreifende wirtschaftliche Integration erlauben. Gerade für Finanzdienstleistungen wird der EU-Binnenmarkt nicht zu ersetzen sein.

Für die Handelsbeziehungen zur restlichen Welt würde Großbritannien im Bereich des Warenhandels die WTO-Verpflichtungen der EU übernehmen, im Bereich der Dienstleistungen hingegen eigene Zollsätze in der WTO aushandeln müssen. Ökonomen der Weltbank sind 2017 in einer Studie zu dem Schluss gekommen, dass sich der Güterhandel zwischen Großbritannien und der EU in diesem ersten Szenario um ca. 38% und der Dienstleistungshandel gar um ca. 48% reduzieren könnte. Beim Ausstieg aus dem Binnenmarkt müsste das Königreich auch eigene Handelsverträge mit Drittstaaten abschließen, da durch die vorgesehene Zollunion der Zugang zu den Handelsverträgen der EU nicht mehr bestünde.

Bislang findet die Strategie für eine Zollunion keine Mehrheit im britischen Parlament. Das Austrittsabkommen wurde bereits zweimal im britischen Unterhaus abgelehnt. Erfolgt keine Einigung droht der harte Brexit. Der Güterhandel zwischen Großbritannien und der EU könnte in diesem zweiten Szenario, so die Weltbank-Forscher, um ca. 50% einbrechen. Beim Dienstleistungshandel müssten sogar Einbußen von ca. 62% hingenommen werden. Wenn Großbritannien die relevanten EU-Handelsverträge nicht rechtzeitig substituieren kann, dürften die britischen Exporte um weitere 17% zurückgehen. Im Falle eines harten Brexits wäre ein rechtzeitiger Ersatz dieser Verträge praktisch unmöglich. Das derzeit unrealistischste Szenario ist der Verbleib im Binnenmarkt. Rein formell ist eine totale Abkehr vom Brexit nach wie vor durch Widerrufung des Artikels 50 möglich, käme aus heutiger Sicht aber sehr überraschend.

Relevanz für Ostdeutschland

Für Ostdeutschland ist Großbritannien der fünftgrößte Handelspartner. Im Jahr 2018 betrug der Warenwert der ostdeutschen Exporte über 6,1 Mrd. Euro. Großbritannien hat mit rund 5,7% Anteil einen relativ hohen Stellenwert für die ostdeutsche Wirtschaft (siehe Grafik). Am stärksten betrifft der Brexit die Branchen, deren Wertschöpfungsketten eng mit dem Königreich verzahnt sind. So können Vorleistungsgüter heute problemlos von Deutschland nach Großbritannien oder in Gegenrichtung geliefert werden, bevor sie dort zum fertigen Produkt weiterverarbeitet werden. Ein Ausstieg aus dem Europäischen Binnenmarkt könnte diese Lieferketten jedoch entscheidend stören, sodass sich diese entweder verteuern oder gar nicht mehr rechnen könnten.

Ökonomen der Weltbank schätzen, dass die britischen Exporte in die EU im Bereich der in Großbritannien fertiggestellten Produkte durch die Umsetzung des ausgehandelten Brexit-Deals um 20% und im Fall eines harten Brexits gar um 28% zurückgehen könnten. In die andere Richtung wären auch ostdeutsche Unternehmen betroffen, die bislang durch britische Zulieferer bedient wurden. So würde laut einer aktuellen IWH-Studie die deutsche Automobilbranche am stärksten unter einem harten Brexit leiden. Beispielsweise werden bislang in Großbritannien produzierte Motoren im BMW-Werk in Leipzig verbaut. Bei einem harten Brexit wäre diese Lieferkette durch Zollkontrollen und die WTO-Importzölle der EU belastet. In der sächsischen Handelsstatistik lässt sich im Jahr 2018 ein sprunghafter Import-Anstieg von Kraftwagenteilen aus Großbritannien feststellen (siehe Grafik), was mit Hamstervorräten in Vorbereitung auf einen möglichen harten Brexit interpretiert werden könnte. Bislang ist noch nicht vorhersehbar, ob den Unternehmen kurzfristig eine Umschichtung ihrer globalen Wertschöpfungsketten gelingen würde. Die Unsicherheit über die zukünftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien muss dementsprechend schnellstmöglich ein Ende finden. In jedem Fall müssen sich die ostdeutschen Unternehmen jedoch mindestens auf einen erhöhten bürokratischen Aufwand und Preissteigerungen in ihren Wertschöpfungsketten gefasst machen.

Der Blick der privaten Banken

  • Die privaten Banken sind auf den Brexit vorbereitet. Die anhaltende Hängepartie im britischen Parlament führt jedoch bereits heute zu negativen Auswirkungen in der Realwirtschaft. Die Unternehmen müssen sich daher mindestens auf Preissteigerungen und erhöhten Dokumentationsaufwand einstellen.
  • In Europa ist der Binnenmarkt der Goldstandard. Nur der Binnenmarkt erlaubt die tiefgreifende wirtschaftliche Integration, die den nachhaltigen Erfolg der europäischen Industrien und Dienstleister begründet.
  • WTO muss auch in Zukunft gegenüber Protektionismus verteidigt werden. Die multilaterale Institution stellt mit ihrem komplexen, etablierten System den wichtigsten Pfeiler des globalen Handels.