MITTELSTAND / WIRTSCHAFTSENTWICKLUNG

Brexit: UK als „friend and sponsor“ der EU?

In der Geschichte gibt es zwar keine Analogien, aber Ähnlichkeiten. So sagen es Historiker. Was man ganz sicher beim Rückblick auf historische Ereignisse auch entdecken kann, sind Richtungswechsel. 60 Jahre ist es her, im Sommer 1961, da nahmen die Briten in Sachen EWG (so hieß die EU damals noch) einen ersten Anlauf. Nicht raus, sondern rein sollte es gehen. Soweit das historische Andersherum. Die Ähnlichkeit zu heute: Bereits damals war Frankreich pas amusés, also nicht sehr angetan von dieser Idee. Der damalige Präsident Charles de Gaulle erklärte zwei Jahre später über die Köpfe der EWG-Partner hinweg die Beitrittsverhandlungen für gescheitert. Bei den Austrittsverhandlungen nun waren es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und sein Landsmann EU-Chefunterhändler Michel Barnier, die auf eine harte Linie setzten. Wäre es nach ihnen gegangen, so wird kolportiert, hätte man die Briten erstmal auf einem No Deal-Schlamassel sitzen lassen. Das hätte sie an den Verhandlungstisch zurück gezwungen – weich gekocht für die EU-Forderungen natürlich.

Durchgesetzt haben sich allerdings zwei Damen, Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen und das mit einer pragmatischen Sicht auf die Dinge. Den Weg zum Last Minute-Deal zu ebnen, dürfte sicher ein Blick auf die wirtschaftlichen Fakten geholfen haben. Großbritannien spielt für die deutsche Volkswirtschaft keine unbedeutende Rolle. In der Rangliste der wichtigsten Exportzielländer fand sich das Vereinigte Königreich (UK) 2019 auf Platz fünf; bei den Importen war es Platz 11. Das Gesamthandelsvolumen betrug 2019 fast 118 Mrd. Euro, also Rang sieben, und was den deutschen Exportüberschuss anbelangt, so war der nur bei den USA größer; UK findet sich auf dem zweiten Rang.

Auch die deutsche Branchenperspektive unterstützt die Notwendigkeit einer gesicherten Vertragsgrundlage für die künftige wirtschaftliche Interaktion zwischen EU und UK. Gerade für die aktuell nicht gerade auf der Sonnenseite stehende Automobilindustrie stellt der britische Markt einen Pfeiler dar: 10% der Kfz-Exporte und damit fast 50 Mrd. Euro gehen über den Ärmelkanal (was nicht zuletzt für Standorte und Zulieferer im Osten mit einem Ausrufezeichen zu versehen ist). Das durch Finanz- und Eurokrise auch nicht gerade gestählte Finanz- und Versicherungswesen bringt es gar auf einen Exportanteil von 20% und das mit einem Umsatzvolumen von 35 Mrd. Euro. Weitere Branchen mit großem UK-Gewicht sind Verkehr/Logistik, die Elektronikindustrie sowie Chemie und die Pharmaindustrie.

Der Anteil des Vereinigen Königreichs an den deutschen Direktinvestitionen beträgt knapp 10% (159 Mrd. Euro). Umgekehrt befinden sich fast 10% der ausländisch kontrollierten Unternehmen hierzulande in der Hand einer britischen Muttergesellschaft. Diese über 3000 Betriebe erwirtschafteten zuletzt eine Bruttowertschöpfung von 46 Mrd. Euro, was in etwa der Größenordnung von französisch oder niederländisch kontrollierten Unternehmen entspricht.

Diese Bestandsaufnahme vermittelt allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn die Handelsaktivität zwischen Deutschland und Großbritanniens hat in den zurückliegenden Jahren den Rückwärtsgang eingelegt. Bereits seit 2015, dem Jahr, in dem sich das Austrittsreferendum abzeichnete und die Unsicherheit einsetzte, nehmen die Ausfuhren Richtung UK ab. So sanken zuletzt die deutschen Exporte nach Großbritannien von Januar bis Oktober 2020 um 18,5%. Corona spielt hier natürlich eine Rolle. Aber nicht nur, denn die Ausfuhren in die EU gingen weniger stark zurück (minus 11%).

Das Fazit an dieser Stelle lautet: Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Deutschland und Großbritannien ist stark. Sie kann davon profitieren und wieder an Schwung gewinnen, wenn ohne EU-Mitgliedschaft künftig ein geordnetes Miteinander gestaltet wird. Von daher ist es positiv zu bewerten, dass die Briten de facto im Binnenmarkt bleiben. Gerade aus Bankensicht gilt dies umso mehr. Zwar hat es in den Jahren des Brexit-Hin und Her Abwanderungen von Banken weg von der Insel hin zum Festland gegeben. Aber der Finanzplatz London ist und bleibt wichtig für die EU-Finanzindustrie. Noch findet beispielsweise das gesamte Euro-Clearing dort statt. Da die Finanzdienstleistungen noch nicht im Grundsatzabkommen vom 24.12.2020 geregelt werden, sondern bis März ein Rahmen ausgehandelt werden soll, kommt es gleich zu Beginn des Jahres eins nach dem Brexit-Abkommen auf die Fortsetzung eines pragmatischen Politikkurses an.

Premierminister Boris Johnson ist ein Verehrer und Kenner von Winston Churchill. Der hatte schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für die Schaffung von Vereinigten Staaten von Europa geworben. Großbritannien allerdings solle kein Teil davon sein, so Churchill, sondern lediglich „friend and sponsor“ dieses neuen Europas. Es bleibt spannend, wieviel Churchill in Boris Johnson steckt.

Dr. Alexander Schumann ist Volkswirt und Leiter Politik und Konjunktur sowie Sonderprojekte beim Ostdeutschen Bankenverband.

 

Veröffentlichung: 7. Januar 2021

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