MITTELSTAND / WIRTSCHAFTSENTWICKLUNG

Deutschland im Spannungsfeld: 3. Die europäische Antwort

Deutschlands Wohlstand beruht stark auf seiner Exportwirtschaft. Wie fragil jedoch die Stellung innerhalb der internationalen Wertschöpfung ist,  wurde in den letzten zwei Jahren deutlich vor Augen geführt. Aus der Krise herauskommen, Wertschöpfungsketten stabilisieren oder auch neue Absatzmärkte finden, das kann Deutschland vor allem im europäischen Kontext. Somit ist die europäische Handelspolitik von maßgeblicher Bedeutung für die hiesigen Regionen.

Gleichzeitig hat auch die Europäischen Union (EU) erkannt, dass sie ihre internationale Position stärken muss. Dies will sie im Rahmen einer „offenen, strategischen Autonomie“ tun – auch mit Einfluss auf die Ausrichtung der Handelspolitik. Wie ist diese ausgestaltet und welche Handlungsbedarfe sind zentral, um Souveränität zu erlangen?

Europas Position

Ein Blick in die Handelszahlen zeigt: Mit einem Export von Gütern und Dienstleistungen im Wert von ca. 4 Bill. Euro und einem Import von ebendiesen im Wert von ca. 2,5 Bill. Euro liegt die EU noch vor den USA und China. Deutschland ist also über die Union in einen der größten Wirtschaftsräume der Welt (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) eingebunden und damit ebenfalls Teil des größten Akteurs im Welthandel, der über 46 Handelsabkommen mit 78 Ländern abgeschlossen hat.

In vielen Produkten abhängig von Drittländern

 

Die EU hat dadurch international die Möglichkeit, eigene Interessen wahrzunehmen und selbst Schwerpunkte zu setzen. Dennoch legte die Corona-Pandemie so manche Abhängigkeiten in Bezug auf Vorprodukte und kritische Rohstoffe (z.B. bei Halbleitern) offen. Immer noch schwächen Lieferkettenschwierigkeiten die hiesigen Unternehmen. Ein Report der Europäischen Kommission arbeitete heraus, dass in der EU 60 Prozent der Importe allein zur Herstellung von hiesigen Gütern verwendet werden. So ist die EU bei ca. 137 Produkten „hoch abhängig“ von den Importen von Drittländern. Ganz oben dabei: von China mit 52 Prozent. Eine Prognos-Studie zeigt ferner die volkswirtschaftliche Bedeutung von Ländern und Regionen weltweit aus Deutschlands Sicht (s. Grafik 1). Hier wird zunächst deutlich, wie immens wichtig der europäische Binnenmarkt ist. Zugleich unterstreicht die Übersicht Chinas Bedeutung bzw. die des asiatisch-afrikanischen Raums bei kritischen und Energierohstoffen. Aber es zeigt sich ebenfalls der Stellenwert der USA bzw. des transatlantischen Raums in Hinblick auf Forschungskooperationen und grenzüberschreitenden Investitionsbeziehungen.

Zusammengefasst: Deutschland bzw. die EU profitieren immens von einem weltweit freien Marktzugang. Entkopplungsphantasien von den USA und China oder allgemeine De-Globalisierungstendenzen würden dagegen die hiesige Wirtschaft und Politik vor echte Herausforderungen stellen. Viele Stimmen in der EU fordern dagegen mehr strategische Autonomie bzw. Souveränität.

Strategische Autonomie

Um diese Souveränität zu erreichen, hat die Europäische Kommission in ihrer strategischen Vorausschau 2021 zu zehn Bereichen klare Zielsetzungen formuliert (s. Grafik 2). Zugleich wurde in diesem Jahr eine neue Handelsstrategie vorgestellt. Ziel ist eine „offene, nachhaltige und entschlossene Handelspolitik“, mit der man die Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts bewältigen kann. An erster Stelle stehen dabei die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie, eine grüne und digitale Transformation der europäischen Wirtschaft, die Gestaltung internationaler Regeln hin zu einer fairen und nachhaltigen Globalisierung sowie die Möglichkeit, eigene Interessen zu verfolgen und Rechte durchzusetzen.

Um diese Kernziele zu erreichen, wurden sechs kritische Bereiche identifiziert, auf die man sich bis 2030 konzentrieren muss (s. Grafik 3). So soll der Streitschlichtungsmechanismus der Welthandelsorganisation (WTO) reformiert oder auch ein ambitioniertes Abkommen zum digitalen Handel abgeschlossen werden. Um die Durchsetzung eines regelbasierten Wettbewerbs zu gewährleisten, will man stärker u.a. auf besseres Monitoring von Handelsabkommen setzen, beispielsweise durch eine verbesserte Überwachung von Formen staatlicher Subventionen aus Drittländern. Zugleich soll die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen optimiert werden, um kritische Infrastrukturen besser zu schützen.

Die angesprochenen Maßnahmen sind wichtig. Richtigerweise zielen sie auf einen neuen Konsens in der Handelspolitik ab, der auf Offenheit, Nachhaltigkeit sowie Durchsetzungsfähigkeit beruht und dabei die wirtschaftlichen Prioritäten der EU berücksichtigt. Dennoch ist zu vieles auf Makroebene angesiedelt und beinhaltet nicht den konkreten Marktzugang. Zudem wird eine hohe Erwartungshaltung bezüglich der Umsetzung hin zur nachhaltigen Transformation erweckt. Diese Lenkungsfunktion kann gegebenenfalls hiesige Unternehmen in ihrem Auslandsengagement überfordern und hemmen, da privatwirtschaftliche Interessen zu sehr mit politischen Zielvorgaben konfrontiert werden.

Handlungsbedarf

Wenn die neue Handelspolitik der EU mit Leben gefüllt werden soll, dann ist die europäische und deutsche Politik aufgerufen, aktiv den hiesigen (Wirtschafts-)Standort sowie die Rolle der Union in der Welt zu reformieren. Auf europäischer Ebene heißt dies in erster Linie, den institutionellen Rahmen zu stärken. So hemmt beispielsweise das Einstimmigkeitsprinzip die Entscheidungsfähigkeit der Union. Dies erleichtert Drittstaaten, die EU innerlich zu spalten und bremst den Verbund darin, dynamischer auf sich verändernde Rahmenbedingungen oder Wirtschaftspolitiken anderer Länder zu reagieren.

Die EU muss mit einer Stimme sprechen

Die EU sollte außerdem ihr Engagement in den Nachbarländern erhöhen und dort zu Stabilität und Wohlstand beitragen, um so auch Chinas und Russlands Einfluss zu minimieren. Hierzu zählen Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und Energie. Das Engagement sollte über Europas Grenzen hinausgehen und Afrika sowie Lateinamerika mit einbeziehen. Die jüngst vorgestellte „Global Gateway Initiative“ (s. Grafik 4) setzt hier die richtigen Impulse als Gegenentwurf zur Seidenstraßenstrategie Chinas und hat das Potential weltweit positive Synergien zu schaffen. Zudem braucht es die Kooperation mit gleichgesinnten Demokratien. Es bleibt wichtig, die transatlantischen Beziehungen weiter zu forcieren. Außerdem ist die Zusammenarbeit etwa mit Japan, Südkorea, Indien, Australien und Neuseeland zentral, um globalen Handel nachhaltig und fair zu gestalten.

Um den Standort zukunftssicher aufzustellen, muss die EU attraktiv für Forschung und Innovation bleiben. Dazu gehört eine europaweite Investition in Bildung und moderne Infrastruktur sowie innovationsfreundliche Regelungen aber auch der Zugang zu Finanzmitteln. Dass beispielsweise „Horizon Europe“ mit knapp 95 Mrd. Euro 2021 bis 2027 das bisher größte Programm zur
Förderung von Forschung und Innovation ist, ist erfreulich. Dennoch: China investierte bereits 2019 ein Drittel mehr in Forschung und Entwicklung als die EU und steigert sich weiter sehr dynamisch.

Das Credo von Investition und Innovation richtet sich ebenso an die Wirtschaftspolitik der neuen Bundesregierung bzw. die der Landesregierungen in Deutschland. Die Rahmenbedingungen müssen so gewählt sein, dass die Wettbewerbsfähigkeit, gerade der Industrie ausgebaut wird. Das gilt insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern, um die Transformation und das Wachstum der Wirtschaft erfolgreich zu begleiten. Darüber hinaus ist die Bundesregierung aufgerufen, im Rahmen ihres Einflusses Europas Zusammenhalt zu stärken. Dies bedeutet auch, die eigene China-Strategie mit derjenigen der EU zu verbinden. Hier ist es erfreulich, dass im Koalitionsvertrag erstmals die Positionen der EU gegenüber China übernommen wurden. Außerdem sollte Deutschland aktiv für den Abschluss neuer Handelsabkommen werben (beispielsweise im indo-pazifischen Raum bzw. Afrika) und sich dafür einsetzen, dass das Freihandelsabkommen mit Lateinamerika (Mercosur) abgeschlossen wird. Nicht zuletzt kommt dem europäischen Finanzmarkt eine Schlüsselrolle zu, wenn es um Sicherung und Stärkung von Wettbewerbsfähigkeit geht. Dazu gehört ein starker Finanzbinnenmarkt, die Vollendung der Kapitalmarktunion und die Stärkung des Euro als Leitwährung.

Ist die strategische Autonomie der EU möglich? Der EU-Markt ist ein international wichtiger Wirtschaftsraum. Weder die USA noch China könnten leicht auf ihn verzichten. Diese Verhandlungsposition gilt es gezielt zu nutzen. Das europäische Ziel muss der Erhalt des Multilateralismus über die WTO sein. Gerade im gemeinsamen Kampf des Klimawandels und der Etablierung globaler Kreislaufwirtschaft ist internationale Zusammenarbeit — über Blöcke hinweg — dringend geboten.

Der Blick der privaten Banken

  • Um wettbewerbsfähig zu bleiben, braucht es auf Ebene Europas, Deutschlands und der Bundesländer Investitionen in Bildung und moderne Infrastruktur sowie eine innovations- und unternehmensfreundliche Wirtschaftspolitik.
  • Darüber hinaus bedarf es eines starken Finanzbinnenmarktes, die Vollendung der Kapitalmarktunion, die Stärkung des Euros als Leitwährung sowie die technologische Unabhängigkeit bei Zahlungsverkehrssystemen. Nur ein starker europäischer Finanzmarkt sichert die Wettbewerbsfähigkeit und strategische Autonomie Europas.
  • Nur wenn die Europäische Union Einheit nach außen zeigt, kann sie wirkungsvoll neben anderen Global Playern agieren.

Ansprechpartnerin: Katja Einecke | katja.einecke@ostbv.de

Veröffentlicht am 16. Dezember 2021