#FokusLand Brasilien: Expertengespräch

„Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Brasilien waren schon besser“

Geostrategie und Weltwirtschaft marschieren nicht mehr im Gleichklang. Das Pendel schwingt weg von Multilateralismus und Gleichberechtigung hin zu stärkerer Betonung nationaler Interessen. In diesem Umfeld muss die Exportnation Deutschland seine Außenwirtschaftsstruktur neu justieren – insbesondere das Gewicht Chinas. Andere Regionen auf dem Globus rücken (wieder) in den Fokus.

Anfang Juni lud die DIHK zur Lateinamerika-Konferenz. Klares Fazit der Teilnehmenden: Nach Jahren der wachsenden Entfremdung zwischen Europa und dem Kontinent an Atlantik und Pazifik tut eine Wiederannäherung dringend not. Gerade für den und aus dem deutsche Mittelstand müssen Impulse kommen. Brasilien als größtes Land Südamerikas kann ein wichtiger Partner dabei sein. In seiner neuen Serie „FokusLand“ stellt der OstBV Brasilien näher vor. Nach Analysen zu Status quo der Politik und Wirtschaft des Landes sowie zum Banken- und Finanzsystem folgt heute ein Expertengespräch mit Dr. Miguel de Sampaio e Spohr.

Der gebürtige Portugiese lebt und arbeitet seit fünf Jahrzehnten in Brasilien, die meiste Zeit davon bei Bayer. Umweltschutz war für ihn bereits Managementaufgabe, lange bevor der Klimawandel und seine Konsequenzen auf die Agenda von Politik und Unternehmen rückten. Familiäre Wurzeln haben ihn zugleich dazu angehalten, an einem guten Verhältnis zwischen Brasilien und Deutschland mitzuwirken. Heute berät er Firmen und hilft, eine Region im Nordosten des Landes touristisch zu entwickeln. Zwei seiner vier Kinder leben und arbeiten bzw. studieren in Deutschland.

Herr Dr. Spohr, Sie sprechen fließend Deutsch. Können Sie auch Sächsisch?

… leider kein einziges Wort. Und leider trainiere ich auch mein Deutsch nicht mehr so regelmäßig.

Die Frage kommt nicht von ungefähr. Ihr Familienstammbaum hat seine Wurzeln in Sachsen …

Ein Freund aus meiner Zeit bei Bayer, der sich mit Ahnenforschung beschäftigt hat, hat mir  vor vielen Jahren Dokumente geschenkt, mit denen ich den Zweig der Spohrs zurückverfolgen konnte. Die Wurzeln, so weit wie ich das recherchiert habe, liegen in Röhrsdorf bei Chemnitz. Besucht habe ich den Ort aber noch nicht.

Welche ostdeutsche Spezialität genießen Sie am liebsten?

Speziell Ostdeutsches gibt es da nichts. Meine Tochter arbeitet mit ihrer Familie in Rostock. Mein Sohn studiert in Aachen. Wenn ich beide besuche, genieße ich auch die deutsche Küche. Und ich mag ein schönes kühles deutsches Bier.

Wenn Sie durch Ostdeutschland reisen, was fällt Ihnen besonders auf?

Wenn ich nach Deutschland komme, bin ich stets in beiden Teilen unterwegs. Im Westen lebt wie gesagt mein Sohn, ich habe hier viele alte Kollegen und Freunde, die ich regelmäßig treffe. Im Osten war ich noch nicht so oft, aber es fällt mir auf, dass vieles auf einem höheren Stand ist, was Technik bzw. Modernität der Infrastruktur anbelangt.

Auch wenn Sie Deutschland gut kennen, Ihre Heimat ist Brasilien …

Geboren und aufgewachsen bin ich in Portugal. Dort habe ich auch studiert und Armeedienst geleistet. Ich war 1974 bei der Nelkenrevolution dabei, mit einer Einheit Marineinfanteristen. Als Portugal nach dem Ende der Diktatur in ein politisches Hin-und-Her abdriftete, bin ich nach Brasilien ausgewandert.

Das war Mitte der 1970er Jahre. Seitdem leben Sie in Rio de Janeiro und haben jahrzehntelang für Bayer gearbeitet. Ihr dortiges Engagement hat Ihnen eine UNO-Auszeichnung gebracht. Dazu kommt ehrenamtlicher Einsatz bei der Auslandshandelskammer in Rio de Janeiro und bei der dortigen Deutschen Schule – Sie waren also immer eine Art Brückenbauer zwischen Brasilien und Deutschland. Welche Schulnote würden Sie aktuell den Beziehungen beider Länder geben?

Das Notensystem in Brasilien ist anders. Es reicht von 1 (schlechtester Wert) bis 10 (bester Wert). Ich tue mich schwer, eine Note zu nennen. Aber die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Brasilien waren schon besser. Bei den Direktinvestitionen ist Deutschland in den letzten Jahren von Platz 5 auf Platz 11 zurückgefallen. Dass man jetzt auf deutscher Seite von einem Neustart der Wirtschaftsbeziehungen spricht, zeigt ja, dass die Entwicklung nicht gut war, sonst müsste man nichts neu starten.

Zu Brasilien gibt es eine Redensart:  Es sei das Land, das seine strahlende Zukunft immer vor sich hat. Mit anderen Worten: Brasilien bleibt ständig unter seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten. Wo sehen Sie Gründe dafür?

Brasilien ist ein riesiges Land, mit riesigem Potenzial. Aber auch mit riesigen Problemen, z.B. die sozialen Unterschiede, Korruption. Wenn man das Potenzial heben will, muss die Politik gute Rahmenbedingungen schaffen. Das ist überall auf der Welt so. In den 2000er Jahren hat das Land vom weltweiten Rohstoffboom profitiert. Man hat vor allem auf den Konsum gesetzt, auf Umverteilung, und hat es versäumt, in die Rahmenbedingungen zu investieren: Infrastruktur, Bildung, heimische Industrie. Dann kam 2014 die größte Rezession der brasilianischen Geschichte. Seit 2017 stabilisiert sich die Lage. Ehrlicherweise muss man sagen, dass Brasilien politisch momentan gespalten ist. Lula hat mit 50,9 Prozent gewonnen. Auch wenn man es in Europa vielleicht nicht gern hört: Für viele Unternehmer, vor allem aus dem Mittelstand, war Bolsonaro das geringere Übel. Die neue Regierung muss enorm Vertrauen gewinnen, wenn es mit Brasilien aufwärts gehen soll.

Klimaschutz ist momentan ein Thema, das die ganze Welt bewegt. Sie sind Experte in Sachen Umweltschutz. Gerade der brasilianische Regenwald steht im Fokus und es wurde in den letzten Jahren immer wieder Kritik geübt an der Umweltpolitik von Ex-Präsident Bolsonaro. Wie fällt Ihr Urteil aus?

Die Daten sind nicht so einfach, wie man sich das in Europa gern vorstellt. Auch in den ersten beiden Amtszeiten von Präsident Lula 2003 bis 2011 hat es Abholzung gegeben, auch wenn er das eindämmen konnte. In den vergangenen Jahren hat die Praxis zugenommen, ist aber von 2021 auf 2022 rückläufig gewesen. Und ganz aktuell haben wir wieder Rekord-Abholzungen. Einfach nur Millionen Euro überweisen, damit niemand mehr brasilianischen Urwald zerstört, wie es aktuell Deutschland angekündigt hat, wird nicht helfen. Die Bewirtschaftung der Ressourcen im Norden Brasiliens ist seit langem innerhalb des Landes ein Streitpunkt. Deshalb kritisiert Präsident Lula auch die ESG-Lieferketten-Richtlinie der EU. Ein Großteil des Urwaldes, aber auch anderer Rohstoffe, befindet sich in den Indio-Reservaten. Die sind verfassungsrechtlich geschützt, aber seit Jahrzehnten und unter unterschiedlichen Regierungen wird über die Nutzung debattiert, wobei sich die Ureinwohner wenig repräsentiert fühlen. In Europa einfach etwas zu verbieten, was vermeintlich dem Klima schadet, wird der Komplexität dieser Fragen nicht gerecht.

Welche Pläne hat Präsident Lula in Bezug auf Umweltschutz und besonders für den brasilianischen Regenwald?

Angekündigt ist ein Programm, mit dem Abholzung eingedämmt wird. Zudem sollen zusätzliche Urwald-Schutzzonen eingerichtet werden. Das Programm hat vier Säulen: wirtschaftliche Anreize für Bio-Ökonomie, wobei man noch klären muss, was das genau ist. Mehr Kontroll-Präsenz der Polizei in den entlegenen Gebieten. Die genannte Gegenstrategie bei der Abholzung und schließlich Förderprogramme für nachhaltiges Wirtschaften.

Das klingt gut, wir müssen aber abwarten, wie das Programm aus dem Parlament raus kommt. Man darf nicht vergessen, die Partei von Ex-Präsident Bolsonaro ist stärkste Fraktion im Congresso Nacional. Lula muss für alle seine Vorhaben Mehrheiten organisieren und von den 60 Prozent der Abgeordneten, die nicht im Parteienbündnis sind, das ihn trägt, genügend überzeugen. Darunter sind viele Unterstützer des bestehenden Wirtschaftsmodells.

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Mittelstands-Konferenz in Deutschland und werden gefragt, warum es sich lohnt, in Brasilien zu investieren oder dorthin zu exportieren. Was antworten Sie?

Was potenzielle Kooperationspartner vor Ort anbelangt, als auch den brasilianischen Mittelstand, die sind erstmal abwartend. Da muss man ehrlich sein. Aber die Chancen sind riesig. Die deutschen Unternehmen haben den Vorteil, dass sie immer auch Ausbildung mitbringen. Gleichzeitig hat Brasilien wichtige Anknüpfungspunkte für die Energiewende in Europa zu bieten.

Allerdings muss sich die EU, muss sich Deutschland beeilen. Lula setzt seine bereits früher geübte Orientierung Richtung China fort, denken Sie nur an den Kontrast zwischen dem kühlen Empfang für Kanzler Scholz und dem imposanten Staatsbesuch Lulas in China. Mit anderen Worten: Man wartet hier nicht auf Europa. Ein Riesengewinn wäre es, wenn man endlich das Freihandelsabkommen EU-Mercosur zu Ende verhandelt. Das liegt jetzt seit 20 Jahren auf dem Tisch. Die Geduld der Mercosur-Länder (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Anm. OstBV) ist bewundernswert. Aber noch viel länger wartet hier niemand. Dann kommt China nicht nur in Brasilien stärker zum Zug.

Herr Spohr, vielen Dank für das Gespräch!

Ansprechpartner: Dr. Alexander Schumann  | alexander.schumann@ostbv.de

Veröffentlichung am 15. August 2023

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