#FokusLand Indien: Banken- und Finanzsystem

Chancen und Herausforderungen im XXL-Format

Mit 1.425.775.850 Menschen ist Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde. Und das seit 2023. In dasselbe Jahr fällt noch ein anderer Einzug des Subkontinents in die globalen Rekordlisten: Im Juli rangierte die indische Bank HDFC Bank auf Platz vier des weltweiten Bankenrankings. Hintergrund des Sprungs in die Top-Ten war die Fusion der Bank mit ihrer Mutter, der Housing Development Finance Corporation, einem Hypotheken-Spezialinstitut, das mit seiner Gründung 1977 einer der Impulsgeber für moderne Finanzdienstleistungen in Indien war.

Die enorme wirtschaftliche Dynamik Indiens spiegelt sich in der Entwicklung des Bank- und Finanzwesens wider, ist aber eine eher junge Facette. Zwar reicht die Entstehung indischer Banken nach europäischem Vorbild bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück, doch blieben die Institute lange Zeit von den Innovations- und Entwicklungszyklen anderswo auf dem Globus abgekoppelt. Den Hintergrund bildet die enge ökonomische Verflechtung  mit Großbritannien. Während beispielsweise Brasilien, heute ein BRIC-Partner Indiens, bereits 1822 den Stauts der Kolonie abstreifen und sich Schritt für Schritt in die internationale Arbeitsteilung integrieren konnte (wie auch andere Teile Lateinamerikas), verharrte Indien als Kronkolonie erst in der Rolle als Absatzmarkt und später als Rohstoffbeschaffer für die britische Industrie.

Der Einfluss Europas sowie ein gewisser Etatismus sind auch am Beginn der Entstehung des indischen Bankensystem im 19. Jahrhunderts zu finden. An die Seite reiner privater Banken in Form von Aktiengesellschaften gesellten sich rasch die sogenannten Presidency Banks. Hier war die öffentliche Hand Mitgesellschafter und zwar in Form der von der Britischen Ostindien Company gestellten Kolonialverwaltungen. Diese Presidency Banks erhielten neben zahlreichen Privilegien auch das Recht, Banknoten auszugeben – was erst mit der Gründung der indischen Zentralbank, der Reserve Bank of India, Ende der 1930er Jahre endete. Noch heute befinden sich unter den wichtigsten Banken Institute mit staatlicher Beteiligung. Beispielsweise ist die State Bank of India (SBI), die zu fast 58 Prozent in der Hand des indischen Staates liegt, gemessen an Marktanteilen (23 Prozent) aktuell die größte Bank des Landes.

Der öffentliche Einfluss änderte sich auch nicht mit der Erlangung der Unabhängigkeit 1947. Von da an wurden die Weichen in Indien eher in Richtung Planwirtschaft als in Richtung Markt gestellt. Mit dem Motiv der Armutsbekämpfung ging eine starke staatliche Kontrolle des Wirtschaftssystems einher –  Banken- und Finanzsektor eingeschlossen. Die historisch gewachsene Verflechtung von Staat und Banken gipfelte in einer Welle von Nationalisierungen privater Institute 1969 und noch einmal 1980.

In den 1990er Jahren setzte die Gegenbewegung ein, der Finanzsektor wurde liberalisiert, zahlreiche Banken mit Beteiligung der öffentlichen Hand fusionierten. Über Jahrzehnte beruhte das Bankgeschäft darauf, dass Inder eine hohe Sparneigung haben. Die Loan-to-Deposit-Ratio, also das Verhältnis der Kredite zu den Einlagen, liegt noch heute in Indien zwischen 70 und 80 Prozent. Zum Vergleich: Die EZB weist für die durch sie beaufsichtigten systemrelevanten  Institute eine Ratio von über 100 Prozent aus.

Mit der Marktöffnung auch im Finanzbereich ist Indien nun in Richtung modernes Finanzsystem nach globalen Maßstäben aufgebrochen. Der Wirtschaftsaufschwung ließ die Ansprüche der Bankkunden steigen – und die Banken passten sich dem an. Die Restriktionen für Beteiligungen ausländischer Investoren an indischen Banken wurden schrittweise zurückgefahren. Gleichzeitig kamen die weltweit wichtigsten Player des Finanzsystems auf den Subkontinente. Die Reserve Bank of India zählt heute 46 ausländische Institute mit Geschäftsaktivitäten auf dem indischen Markt.

In dieses Bild der Modernität passen die indischen Fintechs. Die Schätzungen für die Zahl der Finanz-Startups in Indien schwanken zwischen 3000 und über 6000. Vor allem Zahlungsabwicklungssysteme dominieren diesen Teil des Marktes, gefolgt von Kreditgeschäft und Wealth Management. Die Regierung auf Ebene der Bundesstaaten unterstützt die Fintech-Entwicklung mit entsprechenden Hubs in vielen Metropolen. Das Potenzial für digitale Finanzdienstleistungen ist gigantisch angesichts der Tatsache, dass Indien bei den Smartphone-Nutzern mit fast 600 Millionen und den Internetnutzern mit fast 800 Millionen Nutzern jeweils auf Platz Zwei weltweit liegt.

Neben den Chancen gibt es aber für beide Akteure, die klassischen Banken wie die Fintechs, eine große Herausforderung: die Versorgung großer Teile der Bevölkerung in weniger entwickelten Regionen mit Finanzdienstleistungen. Die Institute stellen sich dieser Aufgabe, flankiert durch Förderung seitens der Regierung. So will beispielsweise die eingangs erwähnte HDFC Bank 1500 neue Filialen pro Jahre eröffnen – ein Riesenprojekt für Indiens riesigen Bankenmarkt.

Ansprechpartner: Dr. Alexander Schumann  | alexander.schumann@ostbv.de

Veröffentlichung am 2. Mai 2024

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