KLARTEXT

Halbzeit 2022: Schlechtes Timing beschert ein Krisen-Knäuel

In unserer Reihe KLARTEXT lesen Sie persönliche Meinungen und Denkanstöße.

Heute von:
Achim Oelgarth
Geschäftsführender Vorstand |
Ostdeutscher Bankenverband e.V.

Das laufende Jahr strebt in großen Schritten seiner Mitte entgegen – ein geeigneter Zeitpunkt für ein Zwischenfazit. Zum Jahresauftakt hatte der Ostdeutsche Bankenverband an gleicher Stelle 2022 als „Jahr der Wahrheit“ apostrophiert. Nach sechs Monaten lohnt ein Blick, welche Wahrheiten in welcher Form auf der politischen Agenda angekommen sind – und welche nicht.

Gerade zu Ende gegangen ist das World Economic Forum 2022 in Davos. Schaut man sich die Top-Themen dieses globalen Gipfeltreffens wichtiger Politik- und Wirtschaftslenker an, so haben die meisten davon Krisencharakter. Und diese Krisen, so Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck bei seinem Davos-Vortrag, sind miteinander verwoben. Zum Beispiel die Inflation: Dass die Kaufkraft durch Inflation schwindet, hat unter anderem mit Energie-Verteuerung und der sich abzeichnenden Nahrungsmittel-Knappheit zu tun – zusätzlich zu stockenden Lieferketten und Materialengpässen als Charakteristika des post-pandemischen Konjunktur-Belebung. Nahrungsmittelproduktion und Energieversorgung werden wiederum durch den Russland-Ukraine-Krieg beeinträchtigt.

Damit hat sich jetzt, Mitte 2022, sozusagen als neuer Wahrheitsmoment, aus einzelnen Krisenherden ein komplexes Krisen-Knäuel gebildet. Es rächt sich, dass zumindest hierzulande eine wichtige Lehre aus dem Beginn der Corona-Pandemie nicht recht gefruchtet hat: In unsicheren Zeiten honorieren Wähler/innen entschlossenes Handeln.

Beispielsweise hätte man die Inflationsdynamik bereits im Januar als langlebiges Phänomen erkennen können, denn die riesige Unwucht aus anschwellender Post-Corona-Nachfrage und Angebotsschwäche lag bereits klar auf dem Tisch. Ebenso, dass diese Friktion angesichts der riesigen Geldmengenausweitung seit 2012 bei gleichzeitigem Verlust an Produktionskapazitäten während der Pandemie (nicht zuletzt im Energiesektor) nicht über Nacht verschwinden wird.

Mit verpatztem Timing also hat Bundesfinanzminister Christian Lindner, FDP, gerade erst jetzt, Ende Mai, die Bekämpfung der Inflation ganz oben auf die Prioritätenliste gesetzt. Positiv stimmt daran, dass sich die Fiskalpolitik der Inflationsbekämpfung annimmt. Denn genau hier ins Portfolio der Finanzminister/innen gehört diese Aufgabe hin – zumindest in der Eurozone. Deren Produktivitäts-Heterogenität erfordert ein konzertiertes Vorgehen von Geldpolitik und Finanzpolitik. Denn Notenbanken können einen starken Preisauftrieb nur mit entschlossenen Zinsanhebungen begegnen – was zu einer Anpassungsrezession führt, welche wiederum die Haushaltspolitiker/innen zur Konjunkturstützung aufruft.

Wie unterschiedlich der einheitliche Euro wirkt, zeigt sich überdeutlich in den stark divergierenden Anstiegen der Preisniveaus. Während Frankreich bspw. in der jüngsten Eurostat-Erhebung auf 5,8% kommt, liegen die Niederlande bereits im zweistelligen Bereich mit 10,2%. Schaut man sich kleinere Euro-Volkswirtschaften an, fällt die Spreizung noch stärker aus: Malta 5,6% versus Irland 20,1%. Die EZB konnte und kann demgemäß nur dann die Zinsschraube anziehen, wenn die jeweilige nationale Haushaltspolitik abfedert. Angesichts der durch die Corona-Hilfsprogramme bereits aufgebrauchten Budgetspielräume geht das nur mit neuen Staatsschulden. Christine Lagarde wird also nicht wie ihr US-Kollege Jerome Powell kräftig auf die Bremse treten, leider. Denn in den USA mit ihrer einheitlichen Wirtschaftsstruktur und den raschen und deutlichen Zinsanhebungen mehren sich die Zeichen eines Abflauens der Inflation. In Europa wird dies noch auf sich warten lassen. Und mit dem Krieg Russlands in der Ukraine bekam Europa zudem noch nahtlos die nächste Krise präsentiert.

Die politische Reaktion auf das Krisen-Knäuel hat eine erfreuliche und eine weniger erfreuliche Seite. Gut und richtig ist, dass sich in den beiden Entlastungspaketen endlich auch steuerpolitische und damit strukturelle Ansätze finden: die Anhebung der Werbungskosten-Pauschale und des Kilometergeldes  sowie des Grundfreibetrags bei der Einkommensteuer. Hier lautet das Fazit: Wahrheitsmoment erfasst, nämlich das die lange steuerpolitische Lethargie der Vor-Ampel-Regierungen endlich gebrochen werden muss.

Die weiteren Maßnahmen allerdings sind einmalig oder vorübergehend angelegt, wie Zuschüsse zu Heizkosten, der Kinderbonus, Tankrabatt und 9-Euro-Ticket. Die Energiepreise (bereits jetzt mit einem Preisplus von 33% der Top-Inflationstreiber) verharren aber auf absehbare Zeit auf hohem Niveau. Und dies ist nicht zuerst dem Krieg in der Ukraine geschuldet. Ein Blick in die Preisstatistiken spricht bereits vor Ende Februar 2022 eine klare Sprache: Die Energiewende kostet seit langer Zeit ein gehöriges Extra. Nicht zuletzt, weil sie vom Ausbau der Erdgas basierten Energieerzeugung flankiert werden muss. Der kriegsbedingte Preissprung hat lediglich zum Überschreiten der Erträglichkeitsschwelle bei den Verbrauchern geführt. Und wenn die Betriebskosten 2022 abgerechnet werden – im kommenden Jahr – wird die Verdoppelung des Anteils der Heizung die Regel, nicht die Ausnahme sein.

Mit anderen Worten: Das Krisen-Knäuel löst sich nicht von selbst auf. Es bedarf vor allem Mut zum Umsteuern und der Bereitschaft, auf politischer Seite endlich Projekte und Vorhaben zu streichen, die nicht mehr zum Krisen-Komplex passen. Wenn beispielsweise aus dem BMWK Pläne verlautbart werden, die regionalen Versorger sollten schon einmal den Rückbau des Gasnetzes in den Blick nehmen, dann erhöht das das Stresslevel in der Wirtschaft – absolut kontraproduktiv.

Wie gut, dass es Mitte Juni wieder die Gelegenheit gibt zur Diskussion zwischen Politik und Wirtschaft über eine passende und vor allem umsetzbare Fitness-Kur für den Standort Deutschland: das Ostdeutsche Wirtschaftsforum. Kanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck sind dabei, wichtige andere Entscheider/innen ebenso. Die Unternehmer/innen sollten der Politik eine Botschaft mitgeben, die sie ihr Tun täglich aufs Neue lehrt: Wirtschaft ist ein komplexes System – jeder Eingriff muss gut überlegt sein. Vor allem aber sollte man gemeinsam die Facetten und Interaktionen der aktuellen Krisen identifizieren. Ein solches „Risk Board Regierung-Wirtschaft“ wäre ein Schritt in Richtung eines Jahresendes, an dem das Krisen-Knäuel wenn schon nicht kleiner, dann wenigstens handhabbarer geworden ist.

Veröffentlichung: 2. Juni 2022

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