MITTELSTAND / WIRTSCHAFTSENTWICKLUNG

Momente der Wahrheit für 2022

„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.“ Dieser Vers ist eines der bekanntesten Bibel-Zitate. Es steht im Buch Prediger und wird König Salomo zugeschrieben. Ein legendärer Herrscher im antiken Israel, der Gott auf dessen Angebot hin, ihm zu geben, was er wünschte, nicht um Reichtum und Macht bat, sondern allein um Weisheit, damit er der Königsaufgabe gerecht werden konnte. Also kein schlechter Ratgeber am Anfang eines neuen Jahres, bei dem wir alle uns fragen, was es bringen wird.

Wofür 2022 ganz sicher die Zeit sein wird, sind „Stunden der Wahrheit“. Zahlreiche Krisen und Konflikte, Sorgen und Probleme, Fragen und Herausforderungen wurden über den Jahreswechsel hinüber ins neue Jahr geschleppt. Die Politik, ob nun auf nationaler Ebene oder in Europa und der Welt, wird es nicht oder kaum noch einmal zwölf Monate schaffen, bei vielen der Entwicklungen und Konstellationen eine Lösung bzw. einen geeigneten Umgang schuldig zu bleiben. Wo sind Antworten gefragt?

Obwohl ihr keine lange Dauer zugetraut wurde, hat sich die Inflation als ziemlich zäh erwiesen. Seit Beginn 2021 baute sich die Preissteigerungswelle auf und schaffte es im November sogar über die 5 Prozent-Hürde. Für 2022 fortfolgende Jahre sind sich alle Analysten einig, bei der Inflation wird aus temporär dauerhaft.

Über die Höhe herrscht noch keine Einigkeit: Zwar entfällt heuer der Basiseffekt wie von 2020 auf 2021 (Preiseinbruch durch Corona und daher niedriger Startpunkt für die Preismessung) und es gibt kein Auslaufen der Mehrwertsteuersenkung. Allerdings bleiben die Energiepreise als Treiber erhalten. Pünktlich zum Jahreswechsel wurde die Schraube des (politischen) CO2-Preises um 1,5 Cent pro Liter Benzin angezogen (Diesel/Heizöl 1,6 Cent). Hinzu kommen die anhaltenden Lieferengpässe: Laut ifo-Institut will 2022 fast die Hälfte der Hersteller im Verarbeitenden Gewerbe aufgrund von Materialmangel die Preise anheben.

Aber ein noch größeres Schwungrad beschleunigt die Inflationsentwicklung: Nachdem Nullzinsen lange keine Preisdynamik entfachen konnten, haben die Notenbanken, darunter die EZB, mit ihren Anleihekaufprogrammen den Finanzpolitikern ordentlich unter die Arme gegriffen. Durch die allerorten aufgelegten Corona-Hilfen haben die Regierungen das derart für sie geschaffene Geld zu den Verbrauchern/innen gebracht. Aktuell übersteigt die Geldmenge im Euroraum den fortgeschriebenen Trend 2008-2015 um über 30 Prozent. Dieser Geldüberhang kann zum Teil – etwa 2 Prozent pro Jahr – durch Angebotsausweitung absorbiert werden. Es bleibt aber noch Potenzial für eine Preissteigerungsrate von jährlich um die 5 Prozent in den kommenden fünf Jahren. Reale Lohnentwicklung und Verzinsung der Altersvorsorge zeigen dann deutlich talwärts. Zeit also bei den Akteuren, sich die Inflationswahrheit rasch einzugestehen.

Die Bank of England hat dies bereits getan und den Leitzins auf 0,25 Prozent angehoben, die US-Notenbank Fed will 2022 folgen. Die EZB zögert und wird lediglich die Pandemie bezogenen Anleihekäufe im März beenden. Mit einer Zinsanhebung für den Euroraum wird frühestens Anfang 2023 gerechnet. Denn noch brauchen die Eurostaaten Hilfe beim Stopfen der Haushaltslöcher. Das führt zum nächsten anstehenden Moment der Wahrheit.

Am 1. Januar hat Frankreich den EU-Vorsitz für die erste Hälfte 2022 übernommen – gleichzeitig mit dem Wahlkampf und dem Urnengang für das Präsidentenamt der Grande Nation. Präsident Macron lässt sich diese  Gelegenheit nicht entgehen und hat ein französisches Prestigethema auf die EU-Ratsagenda gebracht: die Schuldenregeln der Währungsunion. Diese sind pandemiebedingt ausgesetzt, sollen aber 2023 wieder volle Gültigkeit zurückerhalten. Die Südländer der EU, ohnehin mit einer anderen fiskal- und geldpolitischen Philosophie ausgestattet als der Norden, sähen gern eine dauerhafte Suspendierung der Schuldengrenze, was die EU auf lange Zeit prägen würde. Die Diskussion bis Mitte des Jahres wird spannend – und läuft auf einen Kompromiss hinaus. Der lautet bestenfalls: Das Limit bleibt, dafür erhalten die Staaten mehr Zeit, ihre Schuldenstände zu reduzieren. Zusammen mit den auch am Euro-Horizont heraufziehenden Zinsanhebungen muss sich der deutsche Finanzminister allerdings auf eine weitere Baustelle gefasst machen: die gemeinsame Schuldenaufnahme in der Eurozone. Da auch hierzulande Staatsverschuldung immer öfter als Wachstumstreiber angepriesen wird, sei der Wahrheit halber daran erinnert, dass es dafür keine klare empirische Evidenz gibt. Auch in Phasen größerer Defizitspielräume ist die staatliche Investitionsquote keineswegs kräftig geklettert, sondern pendelt für Deutschland in historischer Perspektive zwischen 2 und 3 Prozent des BIP.

Für den Osten ist dieses Faktum besonders wichtig, besser gesagt für die Regionen des Braunkohleausstiegs. Denn hier muss ein politisch verordneter Strukturwandel gemeistert werden – wofür es Geld vom Staat gibt, 14 Mrd. Euro für regionale Investitionen. Die Forschenden der ifo-Zweigstelle Dresden haben ganz frisch analysiert, dass die bisher geförderten Projekte nicht wirklich die Wirtschaftsstruktur betreffen. Das müsse sich schleunigst ändern, nicht zuletzt weil die Ampel ein Vorziehen des Kohle-Aus in ihren Koalitionsvertrag geschrieben hat. Dieser Punkt kommt sicher auf die 2022er Agenda. Hierfür sorgt die EU – indirekt. Ihr Vorschlag, Atomkraft vorübergehend als umweltschonend einzustufen, trifft die Grünen in ihrer Kernkompetenz und steigert den Druck auf die Partei, an anderer Stelle zu punkten. Die Ministerpräsidenten der Braunkohleländer sollten das im Blick behalten.

Das leitet über zum schließlich letzten in diesem Text aufgeführten Wahrheitsmoment – für die Ampel und für die CDU: den Landtagswahlen 2022. Zwar nicht im Osten, sondern im Saarland (27.03.) sowie in Schleswig-Holstein (08.05) und in Nordrhein-Westfalen (15.05.), aber mit bundesweiter Wirkung. Noch regieren hier Ministerpräsidenten mit CDU-Parteibuch, die zudem der Nachwuchs-Generation zugerechnet werden. Nach der Umfrage-Situation droht allerdings allen dreien (Tobias Hans, Daniel Günther und Hendrik Wüst) der Verlust der Regierungsmehrheit (bei der Wahl in Niedersachsen im Oktober könnte die CDU die Rolle als Juniorpartner abgeben). Tritt dieser Fall ein, wäre die Union über lange Zeit zu noch größerer Wirkungslosigkeit verurteilt, da sogar der Einflusskanal Bundesrat gänzlich verschlossen wäre. Der CDU drohte dann tatsächlich der Kampf ums Überleben. Umgekehrt könnte sich die Ampel als Koalitionsmodell etablieren.

Natürlich schwebt über allem das Thema Corona. Da sich aber hier die Wahrheitslage gerade sehr dynamisch entwickelt, sollte man den Januar abwarten, bevor weitere Auswirkungen auf die Wirtschaft analysiert werden. Zeit und Stunde kommen aber auch dafür ganz bestimmt.

Autor: Dr. Alexander Schumann, Leiter Politik und Konjunktur, Sonderprojekte

Veröffentlichung: 06. Januar 2022

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