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#Klartext

30 Jahre EU-Binnenmarkt: Erfolg, der zum Nachdenken einlädt

Ein Frühsommerabend in Deutschland. Die Familie will gemeinsam kochen. Pasta, natürlich original aus Italien. Genauso wie der Sugo aus der feuerroten Dose. Das Olivenöl kommt aus Griechenland, der Rotwein aus Spanien – und für die Kinder gibt es eine Orangina, die man beim letzten Frankreich-Trip kennen und mögen gelernt hat. Während die Kinder den Tisch decken, machen Papa und Mama noch schnell die Ferienwohnung an der Algarve-Küste klar. Das Telefonat mit den Vermietern, einem freundlichen Rentnerehepaar aus Dänemark, ist angenehm. Sie haben das Häuschen in Portugals Süden erst vor ein paar Jahren gekauft, verbringen dort ihren Lebensabend. Nach dem leckeren Abendessen befüllt man die Geschirrspülmaschine des schwedischen Herstellers und schnappt sich dann aus dem Kühlschrank eine Flasche Sekt von der Lieblingsmarke aus dem österreichischen Burgenland. Man will die neuen Nachbarn gegenüber begrüßen. Sie kommen aus Tschechien. Er ist Architekt und hat in einem hiesigen Büro angefangen. Seine Frau startet bald im örtlichen Krankenhaus als Assistenzärztin. Zurück im heimischen Wohnzimmer wird der Fernseher eingeschaltet. Spätausgabe der Nachrichten. Topthema: 30 Jahre EU-Binnenmarkt.

Vor drei Jahrzehnten wäre man für diese Schilderung eines Stückchens Alltag hierzulande ins Reich der Phantasten verwiesen worden. Heute hingegen löst sie allenfalls Zweifel bei den Details aus, bspw. ob es wirklich der Sekt aus dem Nachbarland sein muss. Natürlich ist dieses Fragment auch nur ein winziges Puzzleteil der großen Veränderungsgeschichte, die seit dem Start des EU-Binnenmarktes am 1. Januar 1993 begonnen wurde. Neben den Umwälzungen im Konsumverhalten, bei den Möglichkeiten der privaten Kapitalanlage oder bei der Jobsuche innerhalb fast des gesamten Kontinents enthält das Panorama unzählige Facetten, die zusammengenommen eine Erfolgsstory ergeben.

Seit seinem Bestehen hat der EU-Binnenmarkt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) seiner Mitglieder zwischen 12 und 22 Prozent erhöht und mehr als 2,7 Millionen Jobs geschaffen. Beispiel Irland: Lag das durchschnittliche Wirtschaftswachstum auf der Grünen Insel vor dem Inkrafttreten der Binnenmarktakte bei 2,5 Prozent, stieg es danach auf 9,5 Prozent. Gemessen am kumulierten BIP rangiert der Binnenmarkt heute unter den Top-Drei der globalen Wirtschaftsräume. 447 Millionen Menschen und 23 Millionen Unternehmen in den beteiligten Staaten erwirtschafteten 2021 ein Volkseinkommen von 14,5 Billionen Euro (zum Vergleich: USA fast 20, China fast 18 Billionen Euro). Der Handel innerhalb der EU – verantwortlich für 56 Millionen Arbeitsplätze – wuchs seit 1993 um den Faktor 5. Dienstleistungs-Austausch und Direktinvestitionen stiegen innerhalb der letzten zehn Jahre um jeweils rund ein Drittel. 3,4 Prozent der Beschäftigten innerhalb der EU stammen aus einem anderen Mitgliedsland. 10 Millionen junger Menschen haben inzwischen das ERASMUS-Programm genutzt und ihr Studium teilweise im EU-Ausland absolviert.

Zoomt man näher heran an diese enorme Dynamik, entdeckt man vor allem einen Faktor: Mit dem Binnenmarkt wurden auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in die innereuropäische Arbeitsteilung einbezogen. Verfügten große Konzerne bereits davor über Know-how und Manpower, den Markt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu nutzen, wurde dies den KMU erst mit der Angleichung und damit Vereinfachung der Regeln und Gesetze für Marktzutritt, Kapitalverkehr und Personenfreizügigkeit möglich. Gerade für den deutschen Mittelstand ist es heutzutage eine Selbstverständlichkeit, auf den EU-Märkten vertreten zu sein

Und schließlich gebührt Lob und Anerkennung auch den politischen Entscheidern und den Beamten in den administrativen Maschinenräumen in Brüssel und den europäischen Hauptstädten. Denn immerhin mussten nahezu 300 Gesetze erarbeitet, abgestimmt und erlassen werden, um alle Hemmnisse für den freien Austausch von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen zu beseitigen – und damit das legislative Fundament des EU-Binnenmarktes zu designen.

Der Erfolg hat also viele Mütter und Väter – und er hat vor allem eine entscheidende Triebkraft: unternehmerische Freiheit. Sie war und ist das zentrale Motiv dieses Riesenschrittes der europäischen Integration. Es ging um das Schaffen von Möglichkeiten. Dass die Unternehmer sie nutzen würden, stand für die damaligen Politik-Akteure außer Frage. Sie haben – siehe die Daten weiter oben – recht behalten.

Gerade hier lässt sich aber auch ein großes Manko erkennen, das inzwischen die Politik-Ansätze in Brüssel aufweisen. Aktuelle Projekte der EU atmen eher den Geist der Planwirtschaft, von Verboten und Vorgaben. Sah sich die Europäische Kommission in 1980er Jahren, dem Geburtsjahrzehnt des Binnenmarktes, als Rahmensetzer, hat man heute den Eindruck, dass, um es höflich auszudrücken, eine deutliche Entrücktheit von ökonomischer Realität zum Markenzeichen des EU-Apparates geworden ist. Die Demut früherer Politiker- und Beamtengenerationen, dass das große Europa-Ganze zu komplex ist, um es in überbordende Regularien zu pressen, wurde abgelöst von einer gewissen Anmaßung von Wissen, wie sie der große Ökonom Friedrich August von Hayek schon vor einem halben Jahrhundert als Gefahr heraufziehen sah.

Der 30. Geburtstag des EU-Binnenmarktes bietet daher nicht nur Gelegenheit, auf die Erfolge zu blicken, sondern ebenso darüber nachzudenken, ob nicht die Kombination aus politischem Ermöglichen und wirtschaftlicher Freiheit die bessere Triebfeder weiterer Integrationsschritte ist. Denn sicher wollen auch die aktuellen EU-Akteure, dass man ihre Agenda in 30 Jahren feiert.

In unserer Reihe KLARTEXT lesen Sie persönliche Meinungen und Denkanstöße.

Achim Oelgarth
Geschäftsführender Vorstand
Ostdeutscher Bankenverband e.V.

Veröffentlicht: 26. Mai 2023

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