KLARTEXT

Berlin (erneut) vor der Wahl: Stabilität versus Experimentierraum

In unserer Reihe KLARTEXT lesen Sie persönliche Meinungen und Denkanstöße.

Heute von:
Achim Oelgarth
Geschäftsführender Vorstand |
Ostdeutscher Bankenverband e.V.

Kai Wegener, Spitzenkandidat der CDU für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am kommenden Sonntag, 12. Februar 2023, könnte in große, sehr große Fußstapfen treten. Und zwar in die von Helmut Kohl und Franz Josef Strauß. Beide Unionspolitiker eint, dass sie grandiose Wahlgewinner waren – allerdings bei der Regierungsbildung leer ausgingen. Unter Kohl gewannen CDU/CSU 1976 fast die absolute Mehrheit. Strauß schaffte vier Jahre später nicht ein ganz so starkes Ergebnis, brachte die Union allerdings klar vor der SPD ins Ziel. Da die FDP weder 1976 noch 1980 wechselwillig war, konnten die Sozialdemokraten die rot-gelbe Koalition dennoch fortsetzen.

Nach Fortsetzung sieht es auch in Berlin aus. Obwohl die jetzt stattfindende Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl vom September 2021 auf mangelnde organisatorische Kompetenz von Rot-Rot-Grün zurückgeht, versprechen aktuelle Umfragen den bisherigen Partnern ein Weiterso. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke kommen demgemäß auf einen gemeinsamen Stimmenanteil von 47%. Obwohl die CDU mit einer Prognose von 26% als klarer Sieger gehandelt wird, fehlen der Partei und Kai Wegener der oder die stimmenstarken Koalitionspartner. Die FDP liegt bei 5% und die AfD, mit welcher nicht zusammengearbeitet wird, bringt 10% auf die Stimmen-Waage.

Die Notwendigkeit, die Berliner/innen erneut zur Wahlurne zu rufen, ist eines der letzten Glieder in einer Kette von politischen Kompetenzmängeln, die die Außenwahrnehmung des Bundeslandes Berlin und damit der Hauptstadt prägen. Blick zurück: Im Koalitionsvertrag von Rot-Rot-Grün aus dem Jahr 2016 hatte man sich drei Großbaustellen vorgenommen: Wohnen, Verkehr, Bildung. Schaut man nun auf die aktuelle Liste der Probleme, bei denen den Berliner/innen am heftigsten der Schuh drückt, so sind dies genau jene Themen, die in den zurückliegenden Regierungsjahren von Rot-Rot-Grün umfangreich bearbeitet werden sollten: Wohnungsbaupolitik führt mit fast 40% der Nennungen das Ranking an, gefolgt von Verkehrspolitik (29%) sowie Bildungspolitik (21%). Wenn also nach über sechs Jahren, in denen SPD, Grüne und Linkspartei in dieser Konstellation gemeinsam regieren, hier nichts geschehen ist, welche Erwartungen darf man für die Zukunft haben? Wie etwa der Mietpreisdeckel zeigt, ist die Versuchung für Experimente oft größer – und wird, wie an dieser Stelle vom Bundesverfassungsgericht – bestraft mit Scheitern. Gerade beim Thema Wohnen hat Berlin mit dem Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungsunternehmen noch ein Dilemma vor sich.

Die Tendenz zum politischen Experimentierraum schlägt sich noch nicht in der ökonomischen Realität nieder. Die wirtschaftlichen Daten Berlins sehen ordentlich aus. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund 92% des Bundesdurchschnitts. Das Bruttoinlandsprodukt legte in den zurückliegenden Jahren ordentlich zu (Ausnahme das Corona-Jahr-Eins 2020). Gleiches gilt es für die Beschäftigung zu vermelden. Berlin lag bis 2020 sogar über dem deutschen Durchschnitt bei der Schaffung neuer Jobs.

Allerdings überwiegen die Stimmen, die sagen, Berlins Wirtschaft floriert nicht wegen, sondern trotz der Politik. In einem WELT-Kommentar nach der Wahl 2016 hieß es, die zupackenden Bürger/innen ließen sich eben von dem „Irrsinn aus Regulierung und Unprofessionalität“ nicht beirren. Diese Haltung gibt es weiterhin. Beispiel Start-ups. Berlin liegt hier seit Jahren an der Spitze der Gründungsrankings. Gerade was die Fin-Techs anbelangt, also jenen jungen Unternehmen, die bahnbrechende technologische Innovationen mit der Finanzbranche verknüpfen, behauptet die Stadt kontinuierlich ihre positive Ausnahmerolle.

Berlin kann es schaffen, an dieser wie an anderer Stelle Erfolgsgeschichten zu schreiben. Der politische Kompass müsste nur darauf ausgerichtet, die Schwerpunkte der Regierungsarbeit neu justiert werden. Die Partner der Wirtschaftsförderung jedenfalls werden mit ihrem Engagement und Know-how dazu beitragen.

Weil eben das Potenzial da ist, kann es nach dem 12. Februar vielleicht auch ganz anders kommen. Was, wenn die SPD auf Platz 3 landet und sich überlegt, welche Junior-Partnerschaft auf mittlere Frist die besseren Entwicklungschancen bietet? Zumal die Grünen schon mal klargemacht haben, welche Hierarchie in einer Koalitionsfortsetzung sie sehen, nämlich Grün-Rot-Rot. Vielleicht hat die SPD darauf keine Lust. Immerhin ist es der Partei auf Bundesebene gelungen, nach zwei Koalitionen hintereinander an der Seite der CDU in die Kanzlerschaft zu kommen. Das senkt Hürden, wenn man jetzt in Berlin in Richtung Schwarz-Rot-Gelb denken würde.

Man darf also gespannt sein, ob eine solche Perspektive nach dem 12. Februar den Ausschlag für eine neue Regierungskoalition gibt. Es geht darum, ob Berlin künftig stabile Realpolitik einem Strauß an Gesellschaftsexperimente vorzieht und die Tatkraft von Unternehmer/innen und Bürger/innen entsprechend politisch flankiert.

Veröffentlichung: 9. Februar 2023

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