MITTELSTAND / WIRTSCHAFTSSTANDORT

Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses 2021

Doppelrolle: Land und Hauptstadt

Seit der Wiedereinsetzung als Bundeshauptstadt ist der ohnehin zwiespältige Charakter Berlins noch etwas zwiegespaltener. Schon in den Jahrzehnten der deutschen Teilung, mit West-Berlin als ein Stück Freiheit mitten im Zentrum der unfreien DDR, wuchs der Stadt ein Sonderstatus zu. Nun, als Hauptstadt und Bundesland zugleich, hat sie es mit einer Doppelrolle zu tun. Oder sollte man besser Symbiose sagen: Einerseits ist Berlin abhängig vom Bund, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Andererseits wirken sich Landesentscheidungen direkt aus auf das Image des deutschen Regierungssitzes.

Schon in der Riege der Kandidaten/innen für das Amt des/r Regierenden Bürgermeisters/in begegnet man dem Bund-Bundesland-Schema wieder: Mit Franziska Giffey tritt für die SPD die ehemalige Bundesfamilienministerien an, die zuvor Bezirksbürgermeisterin von Neukölln war. Ihre Mitbewerber mit Chancen auf das oberste Regierungsamt sind für die CDU der langjährige Bundestagsabgeordnete Kai Wegener sowie für die Grünen Bettina Jarasch, die auch Ambitionen auf die Bundespolitik hegte, 2017 aber nicht als Spitzenkandidatin der Berliner Grünen zur damaligen Bundestagswahl aufgestellt wurde.

Was sagen die Umfragen?

Wählergunst folgt dem Bundestrend

Darüber hinaus lässt sich die Entwicklung der Wählergunst für die Parteien gemäß Umfragen in den letzten Monaten in Abhängigkeit des Bundestrends lesen. Während die Berliner Grünen zum Zeitpunkt der Nominierung von Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin einen plötzlichen Aufschwung erlebten und in der Spitze Prognosen von 27 Prozent zugeschrieben bekamen, ging es gemeinsam mit der Bundespartei wieder bergab. Aktuell liegen die Grünen in Berlin bei 18 Prozent und damit auf Rang 2 unter den Parteien, die den Einzug ins Abgeordnetenhaus schaffen können. Die CDU hat hingegen ein Auf-und-Ab hinter sich, ebenfalls nicht unähnlich der Bundespartei. Nach einem frühsommerlichen Umfragehoch mit um die 20 Prozent, kam es zu einer Abwärtsdelle, aber inzwischen rangiert der von Kai Wegener geführte Landesverband der Union bei 16 Prozent — entspricht Platz 3.

Nach längerer Schwächephase auf Platz 1 geschafft hat es die SPD mit Franziska Giffey. In den letzten Umfragen kam sie auf 24 Prozent. Auch hier sieht man eine Parallelität zur Entwicklung der SPD-Wählergunst auf Bundesebene. Die Ex-Kollegen Olaf Scholz und Franziska Giffey marschieren Seit an Seit. Giffey besitzt nun die beste Ausgangsposition, um dem sich nicht mehr zur Wahl stellenden Michael Müller (ihn zieht es in den Bundestag) im Amt als Regierende Bürgermeisterin nachzufolgen.

Fortsetzung Rot-Rot-Grün warscheinlich

Vorausgesetzt die Umfragen spiegeln das Wahlergebnis wider, scheint eine Fortsetzung der Rot-Grün-Roten Koalition als die wahrscheinlichste Option für die kommenden fünf Jahre in Abgeordnetenhaus und Rotem Rathaus. Die Dreier-Koalition bildet nach Meinung vieler Politikbeobachter/innen den Grundtenor der Stadt ab. Nachdem SPD und Grüne 2011 über das Thema Verkehr, konkret den Ausbau der Stadtautobahn A100, nicht zueinanderfanden und es zu einer Großen Koalition kam, haben Sozialdemokraten, Grüne und Linke seit 2016 zusammengearbeitet. Nichtsdestoweniger bleibt die Option eines Zusammengehens mit der CDU.

Zentrales Projekt der zu Ende gehenden Legislaturperiode war der Berliner Mietendeckel. Die Regelung zur Begrenzung und teilweisen Kappung der Wohnraummieten wurde allerdings vom Bundesverfassungsgericht als Kompetenzüberschreitung der Landesregierung kassiert. Damit ist das Instrument aber nicht vom Tisch, sondern findet sich auf Bundesebene im Wahlprogramm der Linken sowie in abgewandelter Form bei den Grünen.

Die Wohnungspolitik bleibt auf der Berliner Politbühne dennoch ein zentrales Thema im Wahlkampf. Dazu trägt bei, dass zeitgleich zur Abgeordnetenhaus-Wahl über den Bürgerentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ entschieden wird. Die Initiative wird intensiv von der Linken unterstützt, was ihr beim Wählervotum durchaus Vorteile bringen dürfte. Die Grünen würden einem Pro-Votum der Bürgerentscheidung ebenfalls folgen, halten sich über das Wie allerdings bedeckt. Andererseits hat sich Franziska Giffey bereits klar gegen Enteignungen ausgesprochen, ebenfalls die CDU sowie die FDP

Die grundlegende Übereinstimmung in Fragen der Regulierung des Wohnungssektors ist verbindendes Element der Koalition, auch wenn die Senatsregierung unlängst den Unwillen der Enteignungsinitiative provozierte, als sie an die Berliner Haushalte ein Informationsschreiben verschickte, welches die Entschädigungskosten im Falle des Erfolgs offenlegte: um die 30 Mrd. Euro — also ein kompletter Landeshaushalt. Inzwischen haben die Befürworter/innen eigene Berechnungen vorgelegt, nach denen sich die Entschädigungskosten zwischen 7 und 14 Mrd. Euro bewegen würden. Im tatsächlichen Enteignungsfall stünde also mit Sicherheit eine Schlacht von Juristen/innen und Gutachtern/innen bevor.

Die als gar nicht bis kaum von politischen Ideen beeinflusstes „Hintergrundrauschen“ ablaufende Wirtschaftsentwicklung Berlins ließ solche Experimentierspielräume, in denen jeder der Koalitionäre sich irgendwie wiederfinden und damit seine Wählerschichten ansprechen konnte, zu. Denn auch ohne große Wirtschaftsagenda hat sich Berlin ganz passabel geschlagen. Das Pro-Kopf-Einkommen beispielsweise stieg seit 2016 kontinuierlich und liegt mittlerweile leicht über dem Bundesdurchschnitt.

Berlin ist Start-up Hauptstadt

Insbesondere die Start-up-Szene hat Berlin seit langem für sich entdeckt und hier besonders die Fintechs, also jene Unternehmen, die innovative Digitallösungen im Finanzbereich entwickeln und zum Durchbruch bringen wollen. Von den aktuell in Deutschland existierenden mehr als 900 FinTechs haben über 300 ihren Sitz in Berlin. Die unangefochtene Spitzenposition der deutschen Hauptstadt in Sachen FinTechs wird auch beim Wachstum sichtbar. Kamen 2020 in Berlin 52 FinTechs neu hinzu, waren es in München 20, in Hamburg 17 und in Frankfurt 15.

Bei der Höhe der Investments nimmt sich der Abstand des Finanzplatzes Berlin noch deutlicher aus. Im Jahr 2020 wurden an der Spree fast 1,8 Mrd. Euro in FinTechs investiert – gegenüber 433 Mio. Euro in München oder 161 Mio. Euro in Düsseldorf. Von der Investitionssumme in Deutschland in den Jahren 2019 und 2020 in Höhe von 2,7 Mrd. Euro entfielen auf Berliner FinTechs nicht weniger als zwei Drittel.

Die Berliner Wirtschaftsförderung steht dieser Entwicklung natürlich positiv gegenüber und unterstützt die unternehmerischen Ansätze. Jenseits des administrativen Bereichs, auf der Top-Ebene der Rot-Grün-Roten Koalition vermisst man allerdings eine eigenständige Agenda, die mit dem Start-up-Pfund wuchern würde.

Generell steht unter dem Bilanzstrich der ablaufenden Koalitionsperiode viel Unerledigtes. Die Verkehrswende, ein großes Projekt zum Umsteuern in Richtung Fahrradverkehr und Fußgänger, bringt es auf zusätzliche 35 Kilometer Radweg. Die teilweise dysfunktionale Verwaltung Berlins ist ein weiterer Malus der Stadt. Monatelange Wartezeiten auf Termine beim Amt sind Normalität. Zur Illustration: Die Landeswahlleiterin hat entschieden, dass man am 26. September auch mit abgelaufenem Personalausweis wählen darf. Schließlich Bildung: Bei den Pro-Kopf-Ausgaben für Schulen und Kitas ist Berlin deutschlandweit Spitzenreiter. Dennoch belegt das Land in den Erfolgsmessungen hintere Plätze.

Als Fazit der zurückliegenden fünf Jahre lässt sich formulieren, dass Berlin den Schwung der Wowereit-Jahre mit dem Willen zum wirtschaftlichen Aufholen aufgegeben hat — zugunsten einer Experimentalphase mit breitem Mix aus Ideen und Ansätzen. Viel Arbeit ist liegen geblieben, wie sich etwa an der weiterhin angespannten Wohnungssituation zeigt, den Bildungsdefiziten oder dem Verkehrsinfarkt in weiten Teilen der Stadt. Sollte die Rot-Grüne-Rote Koalition ein weiteres Mandat erhalten, wäre ein Umsteuern vonnöten: weg von Ideologie, hin zu Pragmatismus.

Die Wahlprogramme - zusammengefasst mit Blick auf die Wirtschaftspolitik

CDU

Die CDU will nach der Corona-Krise alle Hemmnisse für die Berliner Unternehmen identifizieren und beseitigen. Damit setze man vor allen anderen auf die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft. Flankiert werden sollen diese durch z.B. eine vorübergehende Absenkung der Gewerbesteuer und eine stärkere Wirtschaftsförderung auf Ebene der Berliner Bezirke. Der Einzelhandel erhält Sonderhilfen für eine Neuausrichtung (u.a. für den Umbau von Einkaufszentren). Mittels Bürgschaften will man Forschung- und Entwicklungs- sowie Transformationsprozesse bei kleineren und mittleren Unternehmen erleichtern. Mit einem Volumen von 2 Mrd. Euro sollen (gemeinsam mit der Privatwirtschaft) Projekte auf den Gebieten Künstliche Intelligenz, 3D-Druck und Wasserstoff angestoßen werden.

FDP

Eine Willkommenskultur für Unternehmen findet sich auch auf den Programmseiten der Freien Demokraten. Das Klima zwischen Politik und Wirtschaft soll von Zuvorkommenheit geprägt sein. Mit vielen Ansätzen soll den Unternehmen das Leben deutlich erleichtert werden, nicht zuletzt durch die Beseitigung einer Vielzahl bürokratischer Hürden, durch gezielte Förderung und gutes öffentliches Flächenmanagement. Der FDP schwebt in Berlin eine Modellregion für App-basierte Medizin und Gesundheitswirtschaft vor. Unternehmensgründern/innen soll ein „bürokratieloses erstes Jahr“ eingeräumt werden und die FDP lobt ein „Start-up-Stipendium“ von 1.000 Euro monatlich für 1000 Gründer/innen aus. Um den Fachkräftemangel abzumildern, soll es eine „Bring a friend“-Prämie geben. 

SPD

Wie bereits in anderen Landtagswahlprogrammen findet sich auch im Berliner Politik-Katalog der SPD eine Verzahnung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Beispielsweise sollen der Vergabe-Mindestlohn steigen, auf 13 Euro, und öffentliche Auftragsvergaben sollen an Beschäftigungsstandards der potenziellen Auftragnehmer gebunden werden. Das Berlin-weite Modellprojekt eines solidarischen Grundeinkommens würde mit der SPD in der Regierung fortgesetzt. Die Wiederbelebung der Einkaufsstraßen ist nach Einschätzung der Sozialdemokraten gerade in der Post-Corona-Phase von essenzieller Bedeutung. Beim Thema Unternehmensgründungen will man mit Reallaboren punkten, also räumlich begrenzten Bereichen für Innovationserprobungen. Zudem sind ein Fördernavigator und ein Chancenfonds geplant, der die Fremdkapitalaufnahme erleichtern soll.

Bündnis 90 / Die Grünen

Ein Wiederanknüpfen an den enormen Aufholprozess Berlins bis zum Beginn der Corona-Pandemie ist für die Grünen zentrales Motiv der Wirtschaftspolitik. Dafür will man die Digitalisierung weiter voranbringen sowie die Nachhaltigkeitstransformation der Unternehmen. Landeseigene Unternehmen sollen klimaneutral wirtschaften. Berlin soll für Fachkräfte attraktiv gehalten werden und zudem will man den Betrieben in der Stadt bei den Gewerbeflächen und -mieten unter die Arme greifen, und zwar durch ein Ankaufprogramm für Gewerbeflächen bzw. -objekte. Faire Arbeitsmarktbedingungen sind ein weiterer Schwerpunkt, so durch die Unterstützung von Alleinerziehenden. Das Modellprojekt zum solidarischen Grundeinkommen soll zu einem bedingungslosen Grundeinkommen ausgebaut werden.

Die Linke

„Daumenschrauben für Firmen anziehen“, so überschreibt rbb24.de seine Analyse des Wirtschafts- und Arbeitsmarktprogramms der Linken für die Landtagswahl. Konkret geht es um faire Arbeitsbedingungen sowie höhere Löhne. Gerade in der Digitalwirtschaft gebe es in Sachen Arbeitnehmerrechte Nachholbedarf, so die Linkspartei. Fördergelder sollen zudem nur noch Unternehmen erhalten, die Tarifbindung haben oder den aktuell geltenden Landesmindestlohn von 12,50 Euro zahlen. Die Linke schlägt überdies eine landeseigene Beteiligungsgesellschaft vor, welche gezielt als Kapitalgeber bei Unternehmen einsteigt, die durch Corona in Schieflage geraten sind. Die nach Meinung der Linken fragmentierte Gründungsberatung soll in einer Landesagentur gebündelt werden, wobei Barcelona als Beispiel genannt wird. Die Regulierung von Gewerbeflächen und Mieten sowie Rekommunalisierungen sind weitere Facetten des Wirtschaftsprogramms.

AfD

Die Alternative für Deutschland setzt bei ihrem Wirtschaftsprogramm an beiden Enden des Größenspektrums der Unternehmen an. Kleine und mittlere Unternehmen will man gezielter bei Auftragsvergaben der öffentlichen Hand berücksichtigen, so beim Ausbau des ÖPNV, bei Schulen und Infrastruktur. Investoren bräuchten eine „Willkommenspolitik“. Parallel will die AfD gezielt deutsche und internationale Technologieunternehmen aus zukunftsträchtigen Branchen nach Berlin holen. Alles in allem geht es der AfD um ein neues „Wirtschaftswunder“ in Berlin. Die Stadt solle wegkommen von schlechtbezahlten Dienstleistungen und Start-ups und künftig mitmischen im Konzert der europäischen Wirtschaftsmetropolen.

Der Blick der privaten Banken

Für die Koalition, die nach dem 26. September im Roten Rathaus regiert, gibt es aus Sicht der Wirtschaft genügend zu tun. Wahlprogramme sind das eine, der Koalitionsvertrag ist das andere. Aus Sicht der privaten Banken müssen folgende Punkte auf die Agenda der kommenden Legislaturperiode stehen:

  • Klarer Fokus auf Wirtschaft: Wirtschaft muss eine Top-Priorität im Regierungsprogramm erhalten. Berlin sollte wieder an den Veränderungs- und Vorwärtswillen früherer Jahre anknüpfen und im Dialog mit Unternehmen und Verbänden Entwicklungspotenziale heben. Berlins Image bei Zukunftsthemen wie der Digitalisierung bietet der Stadt einzigartige Möglichkeiten zur Wirtschaftsmetropole 4.0 zu avancieren.
  • Stärkung des bilanziellen Eigenkapitals in der Post-Corona-Phase: Für die Sicherung der Investitionsfähigkeit, nicht zuletzt im Hinblick auf digitale Transformation und Klimaschutz, ist eine Stärkung des bilanziellen Eigenkapitals der Unternehmen notwendig. Wie anderswo bereits vorgeschlagen, sollten auch in Berlin Politik und Wirtschaft samt Verbänden in einem Gremium (Task Force EK) die Maßnahmen zielgenau gestalten.
  • Start-up-Agenda: Die Senatsregierung sollte die natürliche Dynamik der Start-up-Szene in Berlin auch auf höchster Politikebene flankieren. Gerade im Fintech-Bereich hat Berlin das Potenzial, der erste tatsächliche digitale Finanzplatz in Deutschland und Europa zu werden.
  • Unternehmensnachfolge: In Ostdeutschland und damit auch in weiten Teilen Berlins geht die komplette Unternehmer/innen-Kohorte in den Ruhestand, die ab 1990 ihre Betriebe gegründet oder ihre Familienfirmen zurück übernommen hat. Nachfolgeförderung sollte daher im Wirtschaftsprogramm der neuen Senatsregierung auftauchen.
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